Kontext ist alles

Hallo Leute und Danke für die vielen Rückmeldungen zu meinem letzten Blog-Eintrag, die ich per Mail bekommen habe! Bitte antwortet beim nächsten Mal über die Website. Ihr könnt dort direkt oben unter der Schlagzeile auf KOMMENTARE klicken, nach unten scrollen und Eure Meinung öffentlich kundtun. Viele haben leider mein Video nicht sehen können im Newsletter, daher hier nochmal der Link dazu:
Nirits Kommentar zu den Vorgängen an Berlins Kunsthochschule

Es geht darum, dass nicht-jüdische Deutsche glauben, uns jüdischen Deutschen und Israelis vorschreiben zu müssen, wie wir uns mit unserer jüdisch-israelischen Geschichte auseinanderzusetzen haben: Pro- oder nicht-zionistisch, mit oder ohne historische Recherchen und so weiter. Tun wir dies nicht in ihrem Sinne, sind wir keine guten Juden. Dann entzieht man uns Gelder und boykottiert uns. Wehe, wir erwägen den Boykott von Waren aus illegalen jüdischen Besatzungssiedlungen oder wagen es, dieses Thema überhaupt nur diskutieren zu wollen! Oyoyoy! Dann ist aber Schluss mit lustig, vor allem Schluss mit der Dauerbetroffenheit, der wir Juden hier in Deutschland ansonsten ununterbrochen begegnen: „Ach was, Sie sind Jüdin?! Wie wuuunderbar!“.
Was, gute Frau, ist daran bitte „wuuunderbar“?!
Dann folgt das Schieflegen des Kopfes, Senken der Stimme, Hundeblick: „Schlimm, was Ihrem Volk hier angetan wurde. Wirklich traurig. Wobei…“, nun flüsternd, „meine Eltern hielten bei sich im Keller einen jüdischen Nachbarn versteckt!“
Bei all den angeblich versteckten Juden, von denen mir zugeflüstert wurde, dürften die Nazis kaum mehr welche gefunden haben zum Vernichten.
Neee, gute Frau, von was Sie reden ist nicht „schlimm“ und „traurig“, das ist die absolute KA-TA-STRO-PHE!!! Das ist Ausgrenzung, Ausrottung, Völkermord, Sadismus, Verachtung, Qualen Qualen Qualen, Rassismus und Hass, und dieses zelluläre Trauma verfolgt uns in unseren Albträumen noch über Generationen hinweg. Was bitteschön ist daran „wuuunderbar“?! Behalten Sie bitte Ihren Betroffenheitssabber für sich und erklären Sie mir nicht, wie ich mit meiner höchstpersönlichen Vergangenheit „richtig“ umzugehen habe.

Die Erinnerung und der Schmerz gehören zu unserem täglich Brot, und weil manche von uns sich besonders intensiv mit dieser Vergangenheit beschäftigen, und weil wieder einige davon nicht nur zurück, sondern auch nach vorne blicken und lernen wollen, stellen wir uns viele komplexe Fragen. Wir wollen verstehen, wie es dazu kommen kann, dass Menschen Menschen derart quälen können, und wie das zu verhindern ist. Wir stellen fest, dass es viele vergleichbare Katastrophen gibt —  vergleichbar nicht in der maschinell-industriellen „deutschen Wertarbeit“-Planungs- und Tötungsmethodik, aber in vielerlei struktureller, geistiger, politischer und emotionaler Hinsicht. Menschen haben wohl seit jeher versucht, „andersartige“ Menschen nicht neben sich existieren zu lassen. Das mag steinzeitlich begründet verständlich sein; aber in unserer heutigen Welt sollten wir es doch möglich machen, nebeneinander her zu existieren, ohne uns die Schädel einzuschlagen. Vor dem Schädeleinschlagen (oder Konzentrations- und Vernichtungslager einrichten) kommt ja noch eine ganze Reihe von Schrecklichkeiten wie Be-Fremden, Ausgrenzen, Entrechten, Enteignen. Wenn das dann auch noch mit staatlichen Mitteln gefördert und juristisch untermauert wird, sprechen wir von Faschismus.

Aber so weit ist es ja bei uns zum Glück nicht, neinnein. Und überhaupt nirgendwo in unserer WWW, unserer Wunderbaren Westlichen Wertegemeinschaft. Und wenn doch mal, nur ansatzweise, vielleicht ein klitzekleines bisschen Faschohauch… naja, schließlich gibt es Interessen. Und Zwänge. Das muss man doch verstehen. Mhmm.

An dieser Stelle darf ich mal auf Mely Kiyak verweisen, deren GORKI Theaterkolumne ich regelmäßig lese und Dir sehr ans Herz lege, dies ebenfalls zu tun. Sie bringt das gesellschaftliche Geschehen aus Sicht einer ‚Deutschen mit Migrationshintergrund‘ (die ist auch so eine wie ich) auf den Punkt. HIER zum Thema Zwänge und Interessen, HIER ihr neuester Beitrag, der noch besser passt zum Thema „wie konnte/kann Faschismus entstehen“.

Jetzt noch ein paar Links, die beitragen könnten, all das Gesagte in einen Kontext zu setzen. Denn ohne Kontext sind Aussagen, Behauptungen, selbst Daten und Fakten nicht einzuordnen und zu verstehen. Ich wünsche eine anregende Lektüre!

Herzlichst,

Israel / Palästina:
Online-Tour durch Gaza (Englisch): Live am kommenden Dienstag, 27.10., 19 Uhr, mit der Menschenrechtsorganisation GISHA und meinen israelischen Reiseleiterkollegen von GREEN OLIVE TOURS.
Eintritt frei, Anmeldung erforderlich.

Rundgang durch Lifta: Yahav Zohar führt in diesem Video durch ein uraltes, halb verfallenes palästinensisches Dorf bei Jerusalem (4,5 min.)

Wieland Hoban, deutsch-englischer Komponist und Übersetzer und Mitstreiter bei der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, schreibt eine dreiteilige Abhandlung über Juden, Deutschland und Antisemitismus. Hier Teil I: Making Room for Jews und Teil II: Compensating for the Holocaust. (ebenfalls englisch; wer den gesamten Text gut verständlich übersetzt haben will: Einfach Absatzweise in deepl.com kopieren. Geht einfach und ist kostenfrei)

Dieser NDR-Beitrag macht die Brücke zwischen den genannten Themen verständlich: Es geht um einen Nebenkläger in Halle. (6 min Video)

Kultur:
Am morgigen Samstag, 24. Oktober, haben Kulturschaffende in München eine Veranstaltung organisiert, bei der bessere Bedingungen für einen rentablen Kulturbetrieb oder andernfalls Kompensationen gefordert werden! Ich erlebe selbst, wie es ist, wenn alle Live-Auftritte praktisch auf Null heruntergefahren werden. Das ist existenzbedrohend und kann so nicht weitergehen.
Ich werde morgen natürlich dabei sein — mit Schirm, Charme und M….askerade. Kommst Du mit?

(Um-)Welt:
Percy Schmeiser, Kanadier mit bayerischen Wurzeln, und seine Frau Louise sind weltweit zu Symbolfiguren geworden im Kampf unabhängiger Bauern gegen die Gentechnik. In einer Zeit, in der sich viele davor fürchten, keine Macht gegen Politik, Großkonzerne und übermächtige Wirtschaftsdynamiken zu haben, hat ein mutiger Mann bewiesen, wie viel man auch als Einzelner bewirken kann. 
Bertram Verhaag stellt seinen Film über den Träger des Alternativen Nobelpreises, der im Alter von 89 Jahren verstorben ist, für die kommenden zwei Wochen kostenfrei auf Vimeo zur Verfügung.
Hier geht’s zum Film Percy Schmeiser — David gegen Monsanto (65 min, dt.)

Und zum Abschluss das ultimative Kontext-Thema:
Vor langer Zeit habe ich schon mal Fabian Scheidlers Buch Das Ende der Megamaschine vorgestellt. Aktueller denn je, erscheint es jetzt nach langer und sorgfältiger Übersetzungsarbeit auf Englisch und Französisch. Die Bücher enthalten ein neues Nachwort über Pandemien, die Zerstörung der Biosphäre und die Grenzen der ökonomischen Expansion.
Hier auf kontext-tv.de findest Du interessante (kurze und längere) Videos zum Buch, u.a. mit Noam Chomsky und Vandana Shiva.