sprechen und spalten oder lieber SCHWEIGEN?

Der Wunsch nach einem dritten Weg

Ich rede ja gerne, aber momentan fällt es mir schwer. Es wird so viel geredet, erklärt, behauptet, mit Zahlen um sich geworfen. Alle sind Experten geworden für irgendwas — aber ich kann da nicht mitreden. Ich will auch gar nicht. Bei meinen zaghaften Versuchen, entweder mit Humor zu all den Verordnungen oder mit einer gewissen Skepsis gegenüber Impfungen eine Diskussion anzustoßen, bin ich auf etwas gestoßen, das ich bisher nur aus der Israel-Palästina-Debatte kenne: Extreme Polarisierung. Entweder Du bist für oder Du bist gegen uns. Wenn Du für die Palästinenser bist, hasst Du Israel, bist sogar Antisemit; Du spielst den Feinden in die Hände, Du bist Verräter. Etwas anderes ist nicht vorstellbar.
Es braucht immer einen langen Prozess, bis Leute, die sich für Freunde Israels halten, in einem Gespräch — wenn sie sich denn überhaupt darauf einlassen — beginnen zu begreifen, dass Du nicht gegen Israel bist, wenn Du für die Rechte der Palästinenser eintrittst (Verzeihung, Freund*innen, dass ich heute die männliche Form wähle — es flutscht besser auf der Tastatur, auch wenn ich jedes Mal „*innen“ denke. Aber halt, stopp: Auch dieser Gedanke lässt mich stocken: Darf ich heute noch ungestraft die männliche Form wählen? Bin ich jetzt Antifeministin? Unbewusst? Gleichgültig gegenüber den Errungenschaften der Emanzipation? Oder soll ich jetzt einfach mal nicht so ’nen Aufstand machen und herrgottnochmal die Gender-korrekte Form wählen? Aber wie genau ist die?! Du merkst: Es ist kompliziert).

In der Israel-Palästina-Debatte werden immer wieder Argumente wie Geschütze aufgefahren, die darauf zielen, Dich zu diskreditieren. Kommen diese Argumente von Institutionen und Amtsträgern, kannst Du davon ausgehen, dass Du mundtot gemacht werden sollst (hierzu gäbe es viel zu sagen — dazu ein andermal an anderer Stelle, oder hier). Kommen die Argumente jedoch in persönlichen Gesprächen ist es interessant zu beobachten, wie es Leuten leichter fällt, unsereins in eine Schmuddelecke zu stecken anstatt sich damit auseinander zu setzen, dass die Dinge komplexer sind als nur „dafür“ und „dagegen“, dass es viel, viel mehr gibt dazwischen. Sind es nicht die leisen Zwischentöne, die in der menschlichen Kommunikation die wesentliche Rolle spielen, die Komplexität erfahrbar machen? Diese kleinen feinen Klänge vermisse ich nicht nur im Kontext Israel/Palästina, ich vermisse sie mehr als alles andere in unserer aktuellen Welt der vergangenen Wochen. Ich leide nicht so sehr unter der Trennung von geliebten Menschen — Trennungen und große zeitliche und örtliche Entfernungen musste ich von klein auf ertragen lernen. Ich leide viel mehr unter der Polarisierung und der mit ihr einhergehenden Spaltung in gut und böse, richtig und falsch, „geht gar nicht“ und „muss unbedingt sein“. Jene zeitlich-örtliche Distanz ist eine physische und kann überwunden werden; sie ist kein social, sie ist physical distance. Die in diesen Wochen erlebte Distanz hingegen wird zunehmend unüberwindbar, sie spaltet uns, sie treibt uns voneinander weg wie Sterne nach einem kosmischen Knall, die in alle Ewigkeit auseinander driften, nur weil unsere Meinungen ideologisch eingetütet werden in „rechts“ oder „links“, „Regierungskonformist“ oder „Verschwörungstheoretiker“, „Realist“ oder „Esoteriker“.
Ich frage mich, wo unsere Debattenkultur hin ist, wo der wissenschaftliche, aber vor allem wo der gesellschaftliche Diskurs geblieben ist?! Ein Diskurs, in dem unterschiedliche Meinungen fundiert dargelegt, von allen Seiten betrachtet, immer wieder neu geordnet, gerne emotional, aber auch sachlich geführt und meinetwegen auch beurteilt werden dürfen, ohne dass die Menschen dahinter gleich verurteilt werden! Ich bin mir durchaus bewusst, dass wir inmitten einer adaptiven Herausforderung stehen, für die es keine bekannten technischen Lösungen gibt. Umso mehr erschüttert mich die Absolutheit, mit der argumentiert und geurteilt wird, als wäre alles andere — egal auf welcher Seite — alternativlos.

Immer wieder höre ich Sätze wie „Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber…“ oder „Man muss echt aufpassen, was man sagt“. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich selbst schon bei solchen oder ähnlichen Sätzen ertappt. Ich weigere mich jedoch zu denken, dass wir unsere Meinung hierzulande nicht äußern dürfen. Und noch kann ich mühelos den Beweis antreten, dass ich das kann. Etwa so:

Israels Besatzungspolitik ist völkerrechtswidrig.
Der israelische Staat verletzt die Menschenrechte der Palästinenser seit Jahrzehnten.
In Israel herrscht eine de facto Apartheidpolitik (laut UN-Definition).
Zwischen Mittelmeer und Jordan gibt es de facto nur eine Regierungsmacht: Für Juden gestaltet sie sich demokratisch, für Palästinenser als Militärdiktatur.

Der Staat Israel spricht mitnichten für alle Juden der Welt.

All das und noch viel mehr kann ich hier sagen. Und doch: Werden Versuche unternommen, kritische Meinungsäußerungen z.B. in Bezug auf Israel und Palästina zu verhindern? Und ob! Bekomme ich dadurch Probleme? Oh ja, und wie! Aber dennoch, ich kann hier in aller www-Öffentlichkeit oder zuhause oder bei Freunden oder bei öffentlichen Veranstaltungen all das sagen und schreiben. Erst wenn diese Zeilen gelöscht werden von einer staatlichen Aufsichtsbehörde, werde ich von einer Meinungsdiktatur, von faschistoiden Regime-Strukturen sprechen. Täte ich das jetzt, würde ich allen Opfern von Diktaturen und Opfern von Faschismus nicht gerecht werden. Ebenso wie man den Opfern des Antisemitismus nicht gerecht wird, besonders den Opfern des Holocaust posthum schreiendes Unrecht geschehen lässt, wenn Kritiker des Staates Israel als Antisemiten diffamiert werden, wie aktuell im Falle von Prof. Achille Mbembe geschehen (lies dazu unbedingt den Aufruf jüdischer Wissenschaftler und Künstler, den offenen Brief der Jüdischen Stimme oder am besten Achille Mbembe selbst).

Erkenne ich jetzt schon Gefahren für unsere Demokratie, etwa durch extreme Kontrollmechanismen, die wir uns kaum auszudenken wagen und die vielleicht dadurch, dass wir verängstigt sind, viel schneller greifen? Oh ja, keine Frage. Können, dürfen wir das alles diskutieren und unterschiedliche Meinungen dazu stehen lassen, ohne Zynismus, Abwertung, Ausgrenzung, Diffamierung? Das würde ich mir wünschen, würde mir meine Meinung bilden und auch ändern wollen, auch darüber scherzen dürfen, ohne gleich befürchten zu müssen, in irgend eine Schublade gesteckt zu werden. Hinter der extremen Polarisierung, die es schon lange gibt und die in den vergangenen Wochen exponentiell gestiegen ist wie manch andere Kurve, verspüre ich vor allem eines: Angst. Angst ist eine nahezu unbezwingbare Kraft, die lähmen oder aggressiv machen kann. Ich kenne keine zuverlässige Methode, sie endgültig loszuwerden, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch die Angst einen Feind hat, vor dem sie sich fürchtet. Es ist der menschliche Wille, die menschliche Entscheidungsfähigkeit. Jedem Menschen wohnt sie inne; jedes menschliche Wesen hat die Fähigkeit, mit Willensstärke diese eine Entscheidung zu treffen:
Von Dir, Angst, lasse ich mich nicht beherrschen! Verschwinde aus meinem Leben!
Es hilft, das oft zu wiederholen, am besten laut. Es eröffnen sich völlig neue Perspektiven von Welt, vom Leben selbst, wenn nicht Angst, sondern der freie Wille die Oberhand über das eigene Denken und Handeln gewinnt.

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Nun zu meinen Empfehlungen diese Woche:
Ich bin eine große Vertreterin dessen, dass man am besten am Originalschauplatz mit eigenen Augen sieht und mit eigenen Ohren hört, bevor man sich eine Meinung bildet. Darum bin ich seit Jahren mit Menschen in Israel und Palästina unterwegs, lasse sie selbst sehen und mit Menschen vor Ort sprechen. Dabei werde ich von meinem Freund Yahav begleitet, einem zertifizierten israelischen Reiseleiter (der Beste!), der endlich ein erstes Video gemacht hat zu Jaffa:


Da zur Zeit das Reisen nicht so gut möglich ist, bietet das Münchner DOKFilmfestival in diesem Jahr die großartige Chance, mit 121 Filmen von zuhause aus ganz Deutschland in die Welt zu gucken.

HIER findest Du das gesamte Programm, das heute beginnt und online abrufbar ist. Aus meiner Sicht spannend: DOK.focus lasting memories beschäftigt sich mit Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus und dem Umgang der nachfolgenden Generationen mit deren Vermächtnis. Bestimmt auch sehenswert: KOSHER BEACH aus Israel; IBRAHIM: A FATE TO DEFINE aus Palästina; und drei Filme aus dem Iran SUNLESS SHADOWS, THE UNSEEN und COPPER NOTES OF A DREAM (stimmt, ich habe eine Vorliebe für #Mittlerer und Naher Osten!).

Informationen zum Vorverkauf, den Tickets, Zahlungsmöglichkeiten und technischen Details findest Du hier.

Ich wünsche gute Unterhaltung und empfehle tiefes, lächelndes, angstbefreiendes Durchatmen!

Herzlichst,

6 Gedanken zu „sprechen und spalten oder lieber SCHWEIGEN?“

  1. http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/008207.html
    Liebe Irit, danke für die lange Antwort.
    Natürlich hat selbst Uri Avneri, ex-Parlamentarier und Herausgeber des Magazins „Ha-Olam ha-Zeh“ immer wieder darauf hingewiesen, dass Israel kein Apartheidstaat ist. Nach seiner Definition kann es deshalb auch nicht für die P.A. zutreffen. Würdest Du Avneri widersprechen?

    1. Lieber Matti,

      in der Tat widerspreche ich Uri in mancher Hinsicht, auch wenn wir uns zu seinen Lebzeiten gut verstanden und in vielen Punkten einer Meinung waren. Er gehörte zu den letzten aufrichtigen linken Zionisten, die ich kenne (kannte) – aufrichtig, weil er zutiefst an das Gute im Zionismus und gleichzeitig an Menschenrechte glaubte. Völlig stimme ich mit ihm überein bei dieser Aussage:

      „Die ganze Welt gegen uns“ ist für sie (Juden) eine natürliche Situation. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass viele Juden sich unwohl fühlen, wenn die Situation eine andere ist.

      Was die Frage nach Apartheid angeht, finde ich es müßig, seinen fast sieben Jahre alten Text als Vergleich heranzuziehen, zumal wir ihn leider nicht nach seiner heutigen Sichtweise dazu befragen können.

      Neben Definitionen und Auslegungen fände ich es zielführender, den Blick auf die heutigen gegebenen Fakten vor Ort, die politischen Ausrichtungen und Zukunftspläne zu richten.

  2. hi there, Nirit.
    Nur eine Frage: Gibt es in Palästina (oder auch nur in Gaza) eine Apartheidpolitik oder nicht? Oder ggf. auch in Jordanien.
    Vielleicht könntest Du dazu einmal etwas sagen…
    Beste Grüße, Matti

    1. Lieber Matti,

      vielen Dank für diese Nachfrage. Sie zu beantworten ist etwas komplexer, denn Du fragst nicht, ob in Israel eine Apartheidpolitik existiert, sondern ob es sie in Palästina, Gaza oder auch Jordanien gibt.

      Am einfachsten kann ich die Frage zu Jordanien beantworten: Ich weiß es nicht. Meines Wissens gilt Jordanien als absolute Monarchie, in der es zwar laut Auswärtigem Amt eine Verfassung, Gewaltenteilung, freie Wahlen und ein Parlament gibt, aber letztlich bestimmt der König über alle politischen Belange. Ob er ethnisch motivierte, juristisch untermauerte und damit rassistisch-trennende Entscheidungen fällt (was auf Apartheidpolitik schließen ließe), vermag ich nicht zu beantworten.

      Über Palästina kann ich mich nur bedingt äußern; ich besuche das Land (außer Gaza) zwar regelmäßig, aber ich spreche kein Arabisch und muss mich schon allein deswegen auf übersetzte Informationen stützen — abgesehen von allem, was ich persönlich erlebe. Dennoch will ich Folgendes bezüglich Apartheid sagen — und hier wird es in jeder Hinsicht komplex:

      Zunächst zur Definition: Apartheid ist dadurch definiert, dass eine Regierung Teile der Bevölkerung wegen ihrer ethnischen (früher sagte man ‚rassischen‘) Zugehörigkeit anders behandelt als den Rest der Bevölkerung. Hier kann man das UN-Papier zu Apartheid in allen Details nachlesen.

      Zu den OPT (Occupied Palestinian Territories) gehört das Westjordanland und auch Gaza. Dennoch muss man die palästinensische Westbank (WB) von Gaza unterscheiden. In der WB gibt es drei Zonen A, B und C; nur in Zone A, also in allen größeren Städten wie Ramallah, Bethlehem, Hebron, Nablus etc., „regiert“ die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), aber sie „regiert“ nur im Rahmen dessen, was die israelische Militärregierung zulässt. Bleiben wir gedanklich innerhalb der palästinensischen Städte und gehen wir dort von einer palästinensischen ‚Regierung‘ durch die PA aus, so sind meines Wissens keine Gesetze vorhanden, die Nicht-Palästinenser anders behandeln als Palästinenser. Ausnahme sind gewisse Bestimmungen für nicht-palästinensische Ausländer, aber das ist ja in den meisten Ländern der Welt so.
      Innerhalb Gazas hat zwar die Hamas das Sagen, aber Gaza gilt völkerrechtlich nach wie vor als Besetztes Gebiet, weil Israel die Hoheit und die totale Kontrolle über Grenzen, Luft- und Seeraum innehat und für die Blockade Gazas seit 2006 verantwortlich ist. (Mehr Infos hier: https://imeu.org/article/reference-sheet-israel-gaza-international-law1). In Gaza leben meines Wissens kaum Menschen, die nicht palästinensischer Herkunft sind. Die meisten sind Muslime, es gibt ganz wenige Christen und noch vereinzelte Ausländer. Daher nehme ich an, dass es für diese verschwindend kleine Minderheit keine eigenen Gesetze und Verordnungen geben dürfte. Damit will ich keineswegs sagen, dass ich die Herrschaft der Hamas in Gaza gut oder verteidigungswürdig finde — nur, den Vorwurf der Apartheid kann man ihr, glaube ich, nicht machen.

      Ist somit die Frage beantwortet, ob es in Palästina eine Apartheidpolitik gibt? Nein, denn Palästina — ich spreche hier nicht vom historischen Palästina (‚Historic Mandatory Palestine‘), also dem gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan unter Britischem Mandat bis 1948, sondern vom aktuellen palästinensischen Staatsgebiet WB + Gaza (von der UNO als Beobachterstaat anerkannt) — steht komplett unter israelischer Kontrolle, de facto Militär-Kontrolle und -Gerichtsbarkeit. Innerhalb Palästinas gibt es jedoch jüdische Siedlungen, die per Definition — mit und ohne Annexion — rein jüdisch sind und der israelischen Zivilgesetzgebung unterliegen. Ein Palästinenser darf zwar in diesen Siedlungen arbeiten, jedoch nicht Autofahren oder selbst dort wohnen. Der Grund hierfür ist, dass er nicht Jude und/oder Israeli ist. Somit ist schon allein dies ein Hinweis auf eine Apartheidspolitik innerhalb Palästinas, die allerdings von der israelischen Politik verantwortet ist, nicht von der palästinensischen.

      Darüber hinaus müssen wir, um Deine Frage komplett zu beantworten, unseren Blick auch auf das Land werfen, das früher einmal, bis vor gut 100 Jahren, ‚Palestine‘ hieß und das seit 1948 das heutige Israel ist — das Land, in dem Du und ich geboren wurden. Heute leben dort etwa 80% jüdische und ca. 20% palästinensische Israelis. Seit der Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes im Juli 2018 steht fest: Israel ist der Staat der Juden, nicht der Staat all seiner Bürger*innen. Mithin sind bestimmte ‚Gepflogenheiten‘, also Ungleichbehandlungen von jüdischen und nicht-jüdischen Israelis, die schon seit Jahrzehnten üblich waren, juristisch untermauerte Realität — in anderen Worten: Apartheid. Sehr viel genauer ist dieser Umstand durch Prof. Norman Paech in seinem Text „Apartheid und Menschenrechte“ dargelegt, den ich mit seiner freundlichen Genehmigung HIER verlinke.

      Ich hoffe, ich konnte ein wenig zum besseren Verständnis beitragen.

  3. wie immer, liebe Frau Sommerfeld, sprechen Sie mir aus dem Herzen.
    Für mich ist das Schlimmste im Ganzen dieser Keim der Spaltung, der gesät wurde. Er kann jederzeit wieder wachsen.

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