Perspektivenwechsel

Diese Zeiten fühlen sich gerade an, als stünde bald kein Stein mehr auf dem anderen. Nahezu jede Nachricht raubt mir den Atem: Die neuesten Meldungen aus Israel und dem besetzten Palästina sind so grauenerregend, dass ich kaum weiß, wie ich sie für mich selbst verarbeiten und schon gar nicht, wie ich öffentlich damit umgehen soll*.  Dazu kommen die Enthüllungen über Betrug und Selbstbereicherung in den sogenannten „höchsten“ politischen und gesellschaftlichen Kreisen mit den PanamaPapers (ich bin nicht einmal mehr fassungslos, nein; ich bin bestätigt in meiner unangenehmen Überzeugung, dass Reiche sich nun mal mit allen Mitteln noch mehr bereichern wollen, dass sehr viel Geld korrumpierbar macht und dass Kapitalismus schlicht schlecht ist).

Ich frage mich, wie wir das und alle anderen Meldungen verdauen sollen, die wir fast beiläufig zu uns nehmen, unsere tägliche Lektüre, die zu unserer geistigen Nahrung gehört wie Popcorn zum Kino: Exekutionen weltweit (laut Amnesty International sind sie  so stark gestiegen wie seit 25 Jahren nicht mehr); Selbstmordattentate auf belebten Plätzen und Märkten (wobei es außer in der Aufmerksamkeit der Medien keinen Unterschied für die Betroffenen macht, ob der Platz einen französischen, türkischen oder afghanischen Namen trägt: verstümmeln und sterben fühlt sich bestimmt überall gleich an); nicht zu vergessen die anderen kleinen und großen Katastrophen wie Klimawandel, Bienensterben, Flüchtlingsströme, Massentierhaltung, Menschenhandel, Diskriminierung und und und …. und da sind dann noch die persönlichen Schicksale! Wie sehr trifft es uns, wenn jemand aus unserem nächsten Umfeld krank wird, stirbt oder – schlimmer noch – sterbensunglücklich ist? Wie sollen wir mit all dem fertig werden?! Unseren Lebensunterhalt müssen die meisten von uns ja nebenbei auch noch verdienen.

Und so erlebe ich mich immer wieder mal in Momenten von tiefer Verzweiflung und Sorge, auch von Mut- und Lustlosigkeit, in denen ich mich frage, ob denn überhaupt irgend eine Aktivität Sinn macht; ob irgend ein Wort oder eine Tat etwas in dieser Welt verbessern oder verändern kann; ob nicht alles ohnehin von den ganz Mächtigen (und ich unterstelle ihnen nichts Gutes) gelenkt ist und sie nur kopfschüttelnd auf uns hinabblicken, wie wir uns da abstrampeln für ein bisschen mehr Gerechtigkeit, für weniger Gewalt, für die Belange von Verfolgten und Unterdrückten. Etwas leichter wird mir erst ums Herz, wenn es mir gelingt, in eine Art Vogelperspektive zu gehen, in der ich die Welt mit einem gewissen Abstand betrachten kann. Wenn ich mich ganz darauf einlasse, wenn ich Glück habe und „es“ passiert, dann ist es ähnlich wie in tiefdunkler Nacht an einem unbeleuchteten Meeresstrand, wenn man im warmen Sand liegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sich in die Tiefe des uns umgebenden Alls fallen lässt. Dann entsteht dieses Gefühl zwischen Herz und Bauch, dass ohnehin alles so ist, wie es sein muss, dass jeder einzelne Stern, auch wenn er noch so weit weg ist oder vielleicht längst verglüht, ein wichtiger Bestandteil dieses ganzen Kosmos ist, auch wenn er selbst oder wir als Betrachter nicht verstehen, warum.

Mit diesem tiefen inneren Gefühl, mit diesem weit entfernten Blick lässt sich auch das Rad der Zeit zurückdrehen und die Menschheitsgeschichte leichter betrachten und erkennen. Ging es den Menschen in früheren Zeiten nicht auch so, dass ihnen das Ende der Welt oder der Untergang der Menschheit vollkommen realistisch erschien? Nur weil wir heute wissen, dass etwa die Welt keine Scheibe ist oder der ‚Todsünde‘ Zorn nicht durch Zerstückelung des Zornigen bei lebendigem Leibe beizukommen ist, war das doch damals für die Menschen genauso beängstigend und existentiell wie für uns unsere heutigen Bedrohungen. Ja natürlich wissen wir, dass nach einer Atomkatastrophe kaum jemand überleben kann; ist es da zynisch, auf die Zeiten der Pest zurück zu schauen, die auch teilweise 90% der Bevölkerung Europas hinweggerafft hat? Ist überhaupt unser Blick auf die Welt verschoben, einseitig? Die PanamaPapers zum Beispiel: Ist nicht die andere Wahrheit,  die andere Sichtweise wirklich großartig, nämlich dass 400 engagierte Journalisten monatelang dicht gehalten und an ihrer Recherche gearbeitet haben, solidarisch dem Ziel verpflichtet, eine große Schweinerei aufzudecken?! Das macht mir Mut und zeigt mir zweierlei: Dass es Sinn macht, sich für etwas Wichtiges einzusetzen, und dass es unerlässlich, notwendig und schön ist, sich dabei auf andere zu verlassen.

Der schwedische Professor Hans Rosling ist auch so ein Mutmacher. Er behauptet steif und fest, dass es der Menschheit noch nie so gut ging wie heute – verhältnismäßig. Als Statistiker beruft er sich auf Fakten und Zahlen aus Quellen wie den Vereinten Nationen und verschiedener Hochschulen und folgert daraus, dass nichts dringender und gleichzeitig machbar ist wie die Beseitigung von Hunger und Armut. Als Einstieg empfehle ich diesen 20-minütigen TED-Talk. Auf dieser Gapminder-Internetseite kann man sich noch jede Menge anderer interessanter Vorträge ansehen.

Hier noch einige Hinweise zu sehens- und hörenswerten Ereignissen in den nächsten Tagen und Wochen, bei denen ich mitwirke:

So, 10. April, 18 Uhr – Radio
Kulturjournal: Mein Gespräch mit Michael Lüders über Israel, Palästina und die Deutschen, moderiert von Wolf Gaudlitz auf Bayern2. Hier geht’s zum Podcast.

Mi, 13. April, 19:30 Uhr – Capitol Kino Grafing
HAPPY WELCOME – ein Roadmovie über vier „Clowns ohne Grenzen“ bei ihrer Tour durch acht deutsche Asylbewerberheime. „Ansteckendes Glück“ (SZ)
Regie: Walter Steffen / D 2015 / 87 Min.

Anschließend moderiere ich das Publikumsgespräch mit Andi Schantz, einem der Clowns.

So, 8. Mai, 19:30 Uhr – DOK.fest München, Filmmuseum, St.-Jakobsplatz 1
P.S. Jerusalem – Dokumentarfilm von Danae Elon, Kanada 2015, 87 min
Anschließend spreche ich mit Irit Neidhardt und Jutta Höcht-Stöhr über den Film und meine eigenen Erfahrungen während meiner zwei Jahre in Israel von 2007-09.

Weitere Filme zum Thema Jüdische Kultur und Israel beim DOK.fest 2016 sind Mr. Gaga, Balagan, Herr Israel – im Spiegelbild sowie Jüdisches Museum Café Nagler. Infos zu diesen und allen anderen Filmen finden sich ab Mitte April hier.

Vielleicht ist die künstlerische Auseinandersetzung die beste Art, sich selbst immer wieder mal einem Perspektivenwechsel zu stellen. In diesem Sinne – auf ein baldiges Wiedersehen,

NL_Signatur2013

*Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: In Israel tobt der Streit um einen Soldaten, der einen am Boden liegenden, offenbar wehrlosen jungen Palästinenser durch einen Kopfschuss exekutiert hat. Der Vorgang ist gefilmt worden. Die einen sprechen von Mord, Hinrichtung, Menschenrechtsverletzung (hier dazu der Artikel von Gideon Levy); die anderen wollen den Soldaten zum Helden machen, wie hier bei einer politischen Versammlung in der Stadthalle von Ramle gefordert. Israel hat längst alle Grenzen überschritten – in jedem Sinne. Mittlerweile sind auch noch die letzten Masken gefallen und eine Verrohung tritt zutage, die mich erschüttert, beschämt, beängstigt – aber nicht zum Schweigen bringen wird.

 

5 Gedanken zu „Perspektivenwechsel“

  1. Liebe Nirit,
    Dein letzter Rundbrief hat mich sehr betroffen, es geht uns Aktiven allen so. Aber warum bleiben wir trotz relativer Erfolglosigkeit bei der Sache? Damit wir uns jeden Tag guten Gewissens im Spiegel begegnen können.
    Dein Gespräch mit Michael Lüders im Kulturjournal hab ich gehört. Es war sehr gut. Lüders Buch „Wer den Wind säht“ haben mein Mann und ich beide gelesen, wir haben es beim Kasseler Friedenspolitischen Ratschlag im Dez. erworben. Das Buch wird ja auch von Clemens Ronnefeldt bei seinen Veranstaltungen angeboten. Es ist sehr kenntnisreich und allen zu empfehlen.
    Heute hörte ich auf Bayern 2 den „Talk“ des Moderatoren Joa mit der neuen US-amerikanischen Konsulin in München, da äußerte sie u.a. „… ja, ja, beim Irak-Krieg ist nicht alles so gelaufen…“ – da hätte ich als Moderatorin darauf hingewiesen, daß vor dem Krieg 15 Mio Menschen in der Welt protestierten und warnten – man hätte nur auf die Friedensbewegung hören müssen! Dies fiel diesem Joa natürlich nicht ein. Da könnte man wütend werden. Nützt aber nichts. Erst wenn sich Mehrheiten in Bewegung setzen, und zwar in die richtige Richtung statt AfD anzukreuzen und mit den Pegidas herum zu johlen, erst dann werden wir die Kriegsstrategen und Profiteure loswerden. Bis dahin machen wir eben weiter, jeder in seinem Bereich, auf daß wir uns im Spiegel begegnen können.

    In herzlicher Verbundenheit, Emmi Menzel

  2. Liebe Nirit,
    vielen Dank für deine Worte! Mir geht es genauso, dass ich manchmal am Verzweifeln bin, mir am liebsten Augen und Ohren zuhalten und laut schreien möchte! Umso erleichterter bin ich über deine Beiträge und die Beiträge der anderen. Es ist gut zu wissen, dass man nicht allein mit seinen Meinungen und Gedanken ist. Vielen Dank für dieses Forum!

  3. Liebe Nirit,

    vielen Dank für Deine Ausführungen, denen ich in grosso modo zustimmen möchte – allerdings sehe ich die Entwicklungen nicht soooo düster! Manches muss noch schlimmer werden, damit die Menschen aufwachen…und es dann besser werden kann! Das betrifft sowohl Entwicklungen weltweit als auch die in unserem eigenen, kleinen Bereich. Klingt schlimm, hat sich aber in meinem Leben als wahr erwiesen (bin jetzt 72!).

    Beispiele: Europa m u s s t e erst zwei Weltkriege durchmachen, um jetzt auf eine 70-jährige Friedenszeit zurückblicken zu können…und ich m u s s t e erst eine tiefe, mehrjährige Depression durchmachen, um heute sagen zu können, dass es mir so gut geht wie noch nie.

    Leider müssen Völker und Menschen offenbar erst Schreckliches durchmachen, bevor sie Bewusstheit und Erkenntnisse für eine andere Welt, ein anderes, geläutertes Dasein entwickeln und dann auch umsetzen können.

    Eingedenk dieser Tatsachen kann man sich vorstellen, was alles noch erlitten werden muss von der Menschheit, vom Einzelnen.

    „Erkennen heisst erleiden“. Ohne Leiden keine Erkenntnis, kein Wandel.

    Gruß und Kuss,
    Georgius!

    P.S.: Wann trittst Du mal wieder im PKC Ehemalige Synagoge Freudental auf? Unvergessen…

  4. Mit beeindruckenden Worten hast Du mein eigenes inneres Hin-und-her-geworfen-werden beschrieben: allein die kurzen Momente des Glücks – Kunst wahrnehmen, Freunden in die Augen blicken, Miteinander erleben – machen immer wieder Mut, trotz allem „ein Bäumchen zu pflanzen“. Sitze im Zug und lächle. Danke

  5. Liebe Nirit,
    Sie haben ja so recht, aber verzweifeln dürfen wir auf keinen Fall. Jede/r soll mit dem zu einer „besseren Welt“ beitragen, was sie/ er kann. Kopf hoch und nicht unterkriegen lassen!

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