Kämpfen! Gewaltfrei für Frieden!

Für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen bedeutet unter anderem, die Dinge zu benennen, wie sie sind, und immer wieder alle Perspektiven zuzulassen. Besonders gelingt dies den ‚Kämpfern für den Frieden‘, Combatants for Peace (CfP), eine mittlerweile große Organisation von ehemaligen bewaffneten israelischen und palästinensischen Kämpfern, die sich entschieden haben, mit anderen Mitteln für ein anderes Ziel zu kämpfen: für Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit für alle und ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Hier der neueste Newsletter (im Englischen Original hier) der CfP:

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Israels Premierminister Netanyahu hat diese Woche verlauten lassen, dass es weitere Gespräche nur unter „Feuer“ geben werde. Diese Worte stehen nicht für uns. Sie stehen nicht für die unzähligen Israelis und Palästinenser, die wissen, dass Gewalt nur die Wunden vertieft und uns vom Frieden entfernt.

Überall in Israel gehen die Menschen auf die Straße — sie protestieren nicht nur für Demokratie, sondern fordern laut und deutlich ein Ende der Gewalt in Gaza. Wir weigern uns zu akzeptieren, dass „Feuer“ die einzige Sprache ist, die wir sprechen, und fordern eine neue politische Richtung — eine Richtung der Gerechtigkeit, Sicherheit und Würde für alle. Wir wissen, dass wahre Sicherheit niemals durch Herrschaft oder Gewalt entstehen wird, sondern durch politische Phantasie, gegenseitige Anerkennung und kollektive Befreiung.

Die Welt schaut zu. In ganz Europa haben führende Politiker die erneuten Bombardierungen scharf verurteilt und einen sofortigen Waffenstillstand sowie dringenden humanitären Zugang zum Gazastreifen gefordert. Der internationale Druck wächst und verlangt, dass Israel seine Militärkampagne beendet und alle Parteien zum Dialog und nicht zur Zerstörung zurückkehren. Neben den Demonstranten in Israel strömen auch die Demonstranten in den großen europäischen Hauptstädten auf die Straßen und fordern, dass die Gewalt gegen die Palästinenser aufhört und dass jedes Leben gleich viel wert ist.

Gewaltlosigkeit ist nicht passiv — sie ist ein kraftvoller Akt des Widerstands gegen Hass und Verzweiflung. Es ist das Beharren darauf, dass ein anderer Weg möglich ist, selbst wenn unsere Führer uns etwas anderes sagen. In diesen dunklen Zeiten ist unsere Arbeit — und Eure Unterstützung — wichtiger denn je.

Hier kannst Du an Compatants for Peace spenden

In dieser Zeit, in der die Rhetorik des Feuers die Schlagzeilen beherrscht, ist es dringender denn je, dass wir uns gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde einsetzen. Gerade jetzt stellen sich unsere israelischen und palästinensischen Aktivisten an die vorderste Front — sie protestieren, nehmen an gemeinsamen Aktionen teil und weigern sich, unsere Zukunft von Gewalt bestimmen zu lassen. Während wir auf allen Ebenen — politisch, sozial und persönlich — angegriffen werden, kämpfen wir für den Erhalt unserer Existenz und dafür, dass die palästinensische Stimme nicht verstummt.

Wir werden uns nicht abwenden, während die Zahl der Todesopfer in Gaza steigt und jedes Leben eine verlorene Welt ist. Und wir werden die israelischen Geiseln nicht vergessen, die immer noch in Gefangenschaft sind und von ihrer eigenen Regierung im Stich gelassen werden — Menschenleben, die in einem Kreislauf des Leidens gefangen sind, der beendet werden muss. Gemeinsam werden wir weiter daran arbeiten, dieser unvorstellbaren Gewalt ein Ende zu setzen — für jedes Leben, das bereits verloren ist, und für jedes Leben, das noch gerettet werden kann.

Hier ist unsere Botschaft an die Kinder von Gaza:

Wir sehen euch. Wir hören euch. Und obwohl wir euch eure Angst und euren Schmerz nicht nehmen können, tragen wir eure Stimmen in unseren Herzen.

Ihr habt ein Recht auf Sicherheit. Ihr verdient Lachen, Spiel und Träume — nicht Angst, Trümmer und Verlust.

Wir arbeiten für eine Zukunft, in der ihr frei, in Frieden, mit Würde und Hoffnung aufwachsen könnt.

Bitte wisst: Ihr seid nicht vergessen und wir werden nie aufhören, für eine Welt zu kämpfen, in der ihr einfach Kinder sein könnt.

Mit Liebe und Hoffnung,
Kämpfer für den Frieden

Deutschlands Haltung

Liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,

heute teile ich zwei Beiträge, die mit der Haltung Deutschlands gegenüber Israel zu tun haben. Und eine Einladung zur Vernissage der Kunstinstallation Shrine of Hope im Café Julius in Chemnitz. Die Künstlerin Katharina Gun Ohlert hat im Rahmen des Projekts ANTONPLATZ15 eine Arbeit zum Thema „Würde“ geschaffen, die Wärme, Schönheit und Hoffnung ausstrahlt. Heute, am Vorabend des 85. Todestages meines Großevaters Julius — er wurde am 16. März 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet — eröffnen wir um 19 Uhr feierlich die Installation mit einigen Reden und Cello-Musik von Matthias Lorenz. Wer in der Nähe ist, ist herzlich eingeladen.

v.l.n.r.: Katharina Gun Oehlert, Julius Sommerfeld und Nirit Sommerfeld

Diesen Brief haben zahlreiche deutsche Organisationen unterschrieben:

Ein Kommentar von Benjamin Hammer, früherer Nahostkorrespondent des Deutschlandfunks:
Trumps Nahost-Politik: Deutschland muss völkerrechtlich auf Kurs bleiben

Herzlichst,

Reden ist Silber, Schweigen keine Option

Liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,

die ganze Kampagne, die hier gegen mich lanciert wurde — und nicht nur in Chemnitz, sondern früher schon in München, in Berlin und andernorts, und nicht nur gegen mich, sondern gegen alle, die sich kritisch äußern zur israelischen Politik — dient einzig und allein dem Zweck, uns zum Schweigen zu bringen und nicht über die schreckliche, menschenverachtende Politik des Staates Israel zu sprechen, mit all ihren grauenhaften, tödlichen Implikationen für Palästinenser und für Israelis. Gerade in Deutschland verwechseln die Menschen (leider auch häufig in Amtsstuben) allzu oft Deutschlands gerechtfertigte Verpflichtung gegenüber Juden mit einer blinden Ergebenheit gegenüber dem Staate Israel. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Dass deutsche Erinnerungskultur und -politik sich mit deutsch-jüdischer Geschichte befasst, mit den unfassbaren Verbrechen der Nazis gegen Juden und andere Ausgegerenzte, mit dem Gedanken“gut“ derjenigen, die sich in Deutschland bis heute gehalten haben, was in jüngsten Wahlergebnissen erkennbar ist. Antisemitismusbeauftragte sollten sich 80 Jahren nach der „Stunde Null“ (die es nie gegeben hat) über die Diverstität des Judentums in Deutschland kundig machen und nicht das Sprachrohr der israelischen Regierung oder gar der amerikanischen werden. Deutsche Funktions- und Würdenträger müssen endlich begreifen, dass eine wachsende Zahl von Juden in Deutschland (und weltweit) ihre Stimme erhebt gegen eine israelische Politik, die weder mit jüdischen Werten vereinbar ist noch irgend einem Volk dient, auch nicht dem israelischen, sondern nur den Interessen Einzelner.

Wer Sicherheit und Frieden für Israel fordert, muss auch Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden für Palästinenser fordern. Nicht ihre „totale Vertreibung, Dezimierung, Vernichtung“ (alles Worte aus dem Munde israelischer Politiker; wer’s nicht glaubt, soll ein Übersetzungsprogramm verwenden).

Kurzum: Ich werde zu dem Unrecht nicht schweigen. Und mir nicht nachsagen lassen, ich würde die Katastrophe des 7. Oktober ignorieren. Das Gegenteil ist der Fall, nur setze ich das Leid, dass dieser grauenhafte Terror über Tausende an jenem Tag in Israel gebracht und zur Traumatisierung des ganzen Landes geführt hat, in einen Kontext. Die Spirale der Gewalt muss gestoppt werden. Es kann nämlich alles noch viel schlimmer kommen, mit noch viel mehr Blutvergießen, Schmerz, Tod und Trauma auf beiden Seiten.

Dies zu verhindern ist meine Mission. Meine bescheidenen Mittel sind die Verbreitung von Informationen, die nicht ohne Weiteres, also nicht ohne einen gewissen Aufwand, die deutsche Öffentlichkeit erreichen. Hier über meinen Blog werde ich ab sofort, so oft es meine Zeit zulässt, aktuelle Infos zur Situation in Israel – Palästina teilen, minimal moderiert.

Danke, dass Du Dich für dieses wichtige Thema interessierst. In einem Liedtext habe ich mal sinngemäß geschrieben:
„Wenn von Dir, Jerusalem, einmal das Licht des Friedens ausgehen wird, dann wird es sich über die ganze Welt verbreiten.“

LOVE IS.

Herzlichst,

Heute geht’s gleich los mit guten Nachrichten:
„No Other Land“ gewinnt den Oscar als bester Dokumentarfilm! Yeah, das sind unsere Leute! Adel Basra und Yuval Abraham schreiben seit Jahren für das Magazin +972, von dem ich hier schon unzählige Male etwas geteilt habe. Hier zwei Links:

https://taz.de/Oscar-fuer-No-Other-Land/!6070162

So sieht die Realität heute im Westjordanland aus:
https://bip-jetzt.de/2025/03/03/bip-aktuell-338-massenvertreibungen-im-westjordanland/

Manchmal sprachlos, niemals mundtot!

Heute wird in Chemnitz der Bombardierung vor 80 Jahren gedacht, bei der Tausende starben und die etwa 75% der Innenstadt zerstörte. Chemnitz begeht diesen Tag seit vielen Jahren als Friedenstag mit vielen Aktionen und Veranstaltungen; dieses Jahr steht er unter dem Motto ‚Versöhnung‘. Ich wurde eingeladen, bei der abendlichen Hauptveranstaltung zu sprechen, doch dann wieder kurzfristig ausgeladen.

Meine Rede hatte ich bereits vorbereitet, Du kannst sie Dir hier anhören. Dieser Artikel (hier als PDF), der heute in der Freien Presse in Chemnitz erschienen ist, bringt die Vorgänge gut auf den Punkt.

Demnächst gibt es wieder mehr von mir zu lesen.

Bis dahin herzlichst,

Hören. Sehen. Stellung beziehen.

Alles Gute für 2025!

Hier ein musikalischer Auftakt der tunesisch-stämmigen Sängerin Emel Mathlouti: Naci en Palestina — Geboren in Palästina. Emel wurde mit ihrem Protestsong „Kelmti Horra“ — „Mein Wort ist frei“ – während des Aufstands in Tunesien 2012 weltbekannt.


Bilder aus Gaza von 2024:


Meine eigenen Bilder aus Palästina / Jerusalem / Israel von März 2022:


Hier eine spannende Publikation, das „Palestine-Israel Journal of Politics, Economics and Culture“. Erst im September 2024 konnte diese Ausgabe erscheinen mit Themen zum 7. Oktober, mit Beiträgen kluger und engagierter palästinensischer und israelischer Persönlichkeiten:
A Joint Search for a Way Forward FROM CONFLICT TO CONCILIATION


Prof. Moshe Zuckermann schreibt im Overton-Magazin von einem Phänomen, das man sich in der deutschen Gesellschaft schwer vorstellen kann, das ich aber aus eigener Anschauung und Erfahrung auch gut kenne und das mir stets von israelischen Freunden — jetzt mehr denn je — bestätigt wird: Das Nicht-Wissen-Wollen der israelischen Zivilgesellschaft.

Dem zum Trotz hat der israelische Historiker Dr. Lee Mordechai von der Jerusalemer Hebrew University ein umfassendes Dokument erstellt, in dem er Kriegsverbrechen Israels im Gazastreifen nach dem 7. Oktober akribisch auflistet und minutiös beurkundet. In seinem Vorwort schreibt er unter anderem:
„I have not received any payment for writing this document and I have written it out of a sense of commitment to human rights, my profession, and my country.“

Hier der Link zu seiner Website, wo man das gesamte Dokument als PDF oder einzelne Kapitel herunterladen kann.


Ein besseres, friedvolleres Neues Jahr, in dem jede und jeder von uns Stellung beziehen kann — gemeinsam und solidarisch!

Herzlichst,

Jahresende und Neubeginn

In meinem letzten Brief des Jahres möchte ich Deine Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf die Situation in Gaza und in der besetzten Westbank und damit auch auf Israel lenken. Dabei liegt mein Fokus immer wieder auf Israel, aus naheliegenden Gründen: ich komme aus Israel, ich spreche die Sprache, die allermeisten meiner Verwandten und viele meiner Freunde leben dort, ich besitze (neben meiner deutschen) auch die israelische Staatsbürgerschaft, das Land und viele Menschen, die da leben, liegen mir am Herzen — und „meine“ Regierung begeht dort seit Jahrzehnten massive Menschenrechtsverbrechen, die immer schon schrecklich waren, aber seit über einem Jahr geradezu obszön kulminieren, während die Welt zusieht. Dabei behauptet sie, sie spräche und handle im Namen aller Juden weltweit.

DAGEGEN VERWAHRE ICH MICH!
NOT IN MY NAME!

Und mit mir stehen Hunderttausende anderer Jüdinnen und Juden weltweit, individuell oder organisiert in Jewish Voice für Peace in den USA, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost in Deutschland, deren Mitglied ich bin, European Jews for a Just Peace und vielen anderen Organisationen. Dabei sind wir sehr unterschiedlich in unseren (nicht-)religiösen, persönlichen und politischen Ausrichtungen, sind uns in vielen Dingen uneinig und diskutieren zuweilen höchst kontrovers. Ist es ein Genozid oder ’nur‘ ein Völkermord? Kann man auch innerhalb Israels von Apartheid sprechen oder nur in den Besetzten Gebieten? Ist Netanyahu durch den Haftbefehl zu Recht mit Terroristen gleichgestellt oder nicht? Sollte man den Boykott gegen Israel als letzte gewaltfreie Maßnahme begreifen oder ihn nur gegen Institutionen und Produkte aus den illegalen Siedlungen anwenden?

Dies und tausende anderer Fragen werden (auch) in jüdischen Kreisen diskutiert — wenn’s gut läuft. Wenn’s schlecht läuft, dann reden auch Juden nicht mit Juden oder schlecht übereinander. Also alles ganz normal wie bei allen anderen Menschen auch. Aber zurück zu uns Aktivisten, die wir uns gegen die israelische Besatzungs- und Kriegspolitik positionieren. Bei all unseren unterschiedlichen Standpunkten sind wir uns über einen Punkt einig:

Frieden und Sicherheit für Israelis wird es erst geben, wenn alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan unter gleichen, freien und gerechten Bedingungen leben können.

Wir alle können die Zukunft nicht vorhersehen, daher wissen wir nicht, wie weit wir davon entfernt sind. Vielleicht passiert es im kommenden Jahr? Manchmal geschehen Wunder.

In diesem Sinne:
Ich wünsche Dir lichte Tage, Gesundheit, einen klaren Blick für das Wesentliche, ein offenes Herz für fremde Perspektiven und ein Wunder-volles Neues Jahr 2025!

Herzlichst,


Hier kannst Du die Arbeit von B’tselem ansehen und unterstützen:
https://www.btselem.org


Nicht viele Künstlerinnen und Künstler beziehen so klar Position wie diese britische Schauspiel-Kollegin Juliet Stevenson:
„What is the point of art, if not to address the great moral issues of our time?“

In Deutschland hat der Austritt vieler Schriftsteller aus dem PEN Berlin für Aufruhr gesorgt. Er verdient viel mehr Aufmerksamkeit! Hier deren Offener Brief in der Frankfurter Rundschau.


Der amerikanischen Journalist Chris Hedges hat aus vielen Kriegsgebieten berichtet. Hier spricht er mit dem Theologen Rev. Munther Isaac über Kriege und Weihnachten:


Und schließlich für die gläubigen Christen unter Euch (und für all jene, die sich dafür interessieren): Die diesjährige Predigt von Rev. Dr. Munther Isaac aus Bethlehem zum Nachlesen:

Was ich noch zu sagen hätte…

… nach dieser langen Zeit: Die Bilder und Zahlen, die Verwüstungen erdrücken mich.

Mehr als ein Jahr und ein Monat sind vergangen, seitdem sich die Welt für Millionen von Menschen radikal und für immer verändert hat. Die meisten von denen, die ich meine, leben zwischen Mittelmeer und Jordan. Doch auch für Palästinenser und Israelis in der Diaspora — oder sollten wir besser sagen: in anderen Ländern außerhalb Palästinas und Israels? — für Juden, Muslime, Araber weltweit ist seit dem 7. Oktober nichts, wie es zuvor war. Das Trauma sitzt tief und es wird Generationen dauern, bis dieser Schmerz überwunden und so etwas wie Heilung stattfinden kann.

An dieser Stelle will ich kurz von mir sprechen, denn Du, lieber Brieffreund, liebe Brieffreundin, hast lange nichts von mir gehört und ich spüre, dass ich Dir eine Erklärung schuldig bin. Mitnichten habe ich mich von meinem Kernthema — Frieden und Gerechtigkeit für Israelis und Palästinenser — abgewandt. Nach wie vor beginnt mein Tag mit der Lektüre von Haaretz, den Tagesberichten von OCHA OpT und anderen Nachrichtenkanälen wie BBC, AlJazeera, MiddleEastEye, +972, BreakingTheSilence und vielen mehr, die ich hier schon oft verlinkt habe. Aber noch nie war ich so ratlos, so frustriert und desillusioniert über die gesamte Situation wie in den letzten Monaten. Was soll ich denn noch sagen zu diesem Horrorszenario, das sich mir täglich bietet, wenn ich in den Nahen Osten, in mein Geburtsland und all die Nachbarländer schaue? Und vor allem: Wie soll ich es sagen?! Es ist kein Geheimnis mehr, dass jede Äußerung, die sich kritisch mit israelischer Politik befasst, in den Generalverdacht des Antisemitismus gerät. Wie absurd das ist, wenn solch ein Verdacht auf jüdische Israelis wie mich trifft, will ich hier gar nicht ausführen. Was soll ich also schreiben, um „beiden Seiten“ gerecht zu werden? Wie soll ich es „paritätisch“ darstellen, dass ich besorgt bin um das Leben der (vielleicht noch lebenden etwa 100) Geiseln und all der Israelis, die immer noch nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten, und extrem besorgt bin um die Zukunft aller Israelis, wenn sie es nicht endlich schaffen, eine komplette Kehrtwende in der Politik ihres Staates zu vollziehen, und gleichzeitig um das Leben von (100.000den, eigentlich Millionen) Palästinensern in Gaza und der Westbank, und der Menschen im Libanon? Meine Sorge breitet sich weiter aus in die gesamte Region, die erfasst sein könnte von einem kriegerischen Flächenbrand, der auch Europa nicht verschonen würde. Dabei denke ich an die Menschen, die Kinder, die Zivilisten, an das Leid, das immer mehr Hass und Gewalt nach sich ziehen wird.

Ich bin es müde zu betonen, dass jedes, wirklich JEDES Leben gleich wert ist und dennoch die Zahlen etwas aussagen über die Verhältnismäßigkeit dieses „Konflikts“. Ich tue mich schwer damit, dass fast die ganze Welt das Vorgehen der israelischen politischen Führung — namentlich Netanjahu, Smotrich, Ben Gvir, Eiland, um nur einige Prominente zu nennen — für kriminell und völkerrechtswidrig hält und die rassistischen, menschenverachtenden, islamophoben Äußerungen dieser Leute hierzulande bestenfalls mit einem Schulterzucken bedacht werden. Mein Postfach ist voll mit markierten Artikeln, die ich eigentlich mit Dir teilen will — und täglich frage ich mich, ob das noch irgend einen Sinn hat. Das (und einige große Veränderungen in meinem Leben, von denen ich am Ende dieses Briefes erzählen werde) hat mich in den letzten Monaten sprachlos gemacht.

Aber einige von Euch Leserinnen und Lesern haben mir geschrieben und Ihr habt mich daran erinnert, dass ich zwar manchmal sprachlos, aber niemals mundtot bin! Danke dafür! Darum geht’s hier jetzt weiter.

Die offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 7. Oktober in Israel wurden von weiten Teilen der Bevölkerung boykottiert, vor allem von Opferfamilien, die immer noch auf einen Deal warten, der ihre Angehörigen endlich aus der Geiselhaft befreit und sie nach Hause bringt. Doch die rechtsradikale, einzig auf Gewalt, Rache und Staatsterror geeichte israelische Regierung sichert weder das Leben der Geiseln noch das ihrer eigenen Bevölkerung, noch das Leben von Juden weltweit, sondern einzig und allein ihre eigenen Machtbedürfnisse. Für mich als Deutsch-Israelin, die das Ganze mit schmerzlicher innerer Nähe und großer physischer Distanz beobachtet und nicht erst seit einem Jahr erforscht, analysiert und beschreibt, sind die Strukturen offensichtlich, die zu der Horrorsituation geführt haben, in der wir uns jetzt befinden.

Die Massaker, die am 7. Oktober durch Palästinenser an vorwiegend israelischen, aber auch an thailändischen,philippinischen, amerikanischen Zivilisten und auch israelischen Militärs verübt wurden, haben eine tiefe Wunde in der gesamten israelischen (und auch jüdischen) Gesellschaft gerissen, die lange nicht vergessen sein wird. Aber lasst uns nicht vergessen, dass der 7. Oktober 2023 kein Einzelereignis war — er ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die neuen Traumata wurzeln auf alten Gewaltereignissen, die wir alle gleichzeitig betrachten müssen, um begreifen zu können, wie alles im Zusammenhang steht. Wir müssen große (und für uns jüdische Israelis schmerzhafte) Anstrengungen mit dem Blick in die Vergangenheit auf uns nehmen, um Kausalitäten zu erkennen, um Verständnis und Empathie füreinander zu entwickeln, um Lösungen für ein sofortiges Ende der Gewalt und eine gerechte, friedlichere Zukunft für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan zu finden.

Hier liefert das neue Buch von Michael Lüders KRIEG OHNE ENDE? reichlich Stoff, um die komplexen Zusammenhänge der Geschichte der vergangenen 120 Jahre bis heute verstehen und einordnen zu können.

Ebenfalls zu diesem Thema jetzt auf Deutsch erschienen: Rashid Khalilis Der Hundertjährige Krieg um Palästina.


Auch ich habe ein Buch geschrieben, einen fiktiven (noch unveröffentlichten) Roman, aus dem ich am 27. November 2024 das erste Mal beim Deutsch-Schweizer PEN-Zentrum lesen werde. Außerdem habe ich meinen Lebensmittelpunkt nach Chemnitz verlegt, wo ich am 3. Oktober, pünktlich zu Beginn des Neuen Jüdischen Jahres, das Museumscafé im Staatlichem Museum für Archäologie smac eröffnet habe. Es ist nach meinem Großvater „Julius im SCHOCKEN“ benannt, der in Chemnitz am Antonplatz lebte und wirkte und dort von Nazis verhaftet und ins KZ verschleppt wurde. Wenn Du HIER nach unten scrollst, kannst Du nachlesen, was es mit dem Namen und der Geschichte auf sich hat. In Chemnitz haben wir auch den Kulturverein ANTONPLATZ e.V. gegründet, von dem ich bald mehr erzählen werde. Und schließlich gibt es noch etwas Musikalisches zu berichten: Wir werden die JIDDISCHE WEIHNACHT demnächst drei Mal in Sachsen spielen: am 29. und 30. November und am 1. Dezember. Alle Daten dazu HIER.


Nun will ich doch noch einige Infos mit Dir teilen. Wenn Du mir schreiben willst, dann nutze gerne die Kommentar-Funktion (auf meiner Website unter der Überschrift dieses Briefes).

Herzlichst,

3sat zum Film No Other Land

Einer der verwerflichsten Tiefpunkte israelischer Politik der vergangenen Wochen, was Rhetorik und Propaganda betrifft: Amsterdam. So durchschaubar, und dennoch von den meisten deutschen Medien einfach nur plump übernommen, während israelische und holländische Medien bereits längst berichteten, dass israelische Fans/Hooligans die Ausschreitungen provozierten. Hier nur zwei andere Berichte dazu vom israelischen Magazin +972 und von Democracy Now.

taz: Der Tod ist die Regel, nicht die Ausnahme

Immer lesenswert (und regelmäßig): Der Newsletter vom Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern BIP

Älter, aber immer gut und lesenswert: Charlotte Wiedemann auf der Seite von medico international.

Verhandlungen unerwünscht

Liebe Brieffreunde,
was will uns das sagen, wenn einer der wichtigsten Verhandlungspartner für einen Waffenstillstand und für die Befreiung der Geiseln in einer weit entfernten Hauptstadt gezielt ermordet wird? Die Botschaft ist vieldeutig: Diejenigen, die den Befehl zum Abschuss des Marschflugkörpers auf Ismael Haniyyas Haus in Teheran gegeben haben — der israelische Kriegsminister Galant und alle Verantwortlichen der Regierung Netanyahu, allen voran der selbsternannte Faschist Ben-Gvir — wollen weder einen Waffenstillstand, noch ist die Befreiung der israelischen Geiseln ihre oberste Priorität, noch schrecken sie davor zurück, in einer fremden, feindlich gesinnten Hauptstadt ein Mordkommando am obersten Chef einer Organisation durchzuführen, der tags zuvor noch Staatsgast des neu vereidigten iranischen Präsidenten war. Und mehr noch plärrt uns diese Botschaft ins Gesicht: Internationales Recht? Interessiert uns nicht! Angst vor einer Eskalation? Im Gegenteil! Her mit dem Krieg aller Kriege! In Israel werden die beiden jüngsten Ermordungen in Beirut und Teheran mit Freudenfesten und Bonbons auf den Straßen gefeiert, und nicht nur von einem hirnlosen Mob, sondern angeführt von einem vermutlich ebenso minder bemittelten, aber umso gefährlicheren Minister Ben-Gvir.

Hierzu dieser Artikel in der heutigen Ausgabe von Haaretz, den man sich mit Klick auf das Globus-Symbol auch auf Deutsch vorlesen lassen kann:https://www.haaretz.com/israel-news/haaretz-today/2024-07-31/ty-article/.premium/sanctifying-death-why-israelis-celebrate-assassinations/00000191-0976-daf5-a7db-eff6a53b0000?gift=0ff27ffc06d3499382ad84a07dad1892

Und hier ein paar Bilder und Infos aus Instagram-Kanälen, die Du in den meistgelesenen deutschen Medien vermutlich nicht bekommst.
https://www.instagram.com/reel/C-BmEutimpq/?igsh=MXVoNnN0a3g1bnhvYw==
https://www.instagram.com/reel/C-BZJXqve0p/?igsh=MTA0NHp4eHRnbHppNQ==
https://www.instagram.com/reel/C-AHQ7eoaeK/?igsh=eDlrcThhaTl5cDNm
https://www.instagram.com/reel/C-GDTgnuhhP/?igsh=eG9nenB6NWdqZzZx

Herzlichst und in Sorge,

Wenn meine Briefe ein Mehrwert für Dich sind, dann leite sie gerne weiter. Das ist und bleibt für alle Leser und Hörerinnen kostenfrei, auch wenn mich meine Arbeit— lesen, recherchieren, kuratieren, schreiben — natürlich Zeit und Geld kostet. Finanziert wird dies durch eine Solidargemeinschaft von Mitgliedern bei Steady. Wie auch Du schon mit 3,50 € pro Monat dabei sein kannst, erfährst Du HIER. Probier’s mal aus!

2. Lese-Brief: Auf der Suche nach Gazas vermissten Kindern

Im israelischen Online-Magazin +972 erschien am 18. Juli 2024 dieser ausführliche Bericht. Hier lese ich eine automatisch generierte Deepl-Übersetzung aus dem Englischen. Den Originaltext kannst Du hier online nachlesen.


Auf der Suche nach Gazas vermissten Kindern
Von Ibtisam Mahdi, gelesen von Nirit
(wenn Du auf das Radio klickst, öffnet sich die Seite, auf der Du den Audio-Link öffnen kannst)

Danke fürs Lesen und Zuhören!

Herzlichst,

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Brief aus Jerusalem, vorgelesen

Heute beginne ich mit einer neuen Reihe. Einen Brief, eine Mail oder einen Artikel werde ich (fast) täglich aus der Flut der Informationen und Nachrichten aus und über Israel und Palästina aussuchen und Dir vorlesen.

Der erste vorgelesene Brief ist aus einer Reihe von Beiträgen, die in der Tageszeitung junge welt als “Brief aus Jerusalem” veröffentlich werden. Geschrieben hat ihn Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der palästinensischen Universität Birzeit nördlich von Ramallah im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr vierter Beitrag in der Reihe “Brief aus Jerusalem”. Brief eins erschien in der jW vom 29./30. Juni, die Folgebriefe in den jW-Ausgaben vom 8. und 13./14. Juli. Diesen hier vorgelesenen Brief findest Du in der aktuellen jW Wochenendeausgabe.


Die Tragödie der Kinder
von Helga Baumgarten, gelesen von Nirit
(wenn Du auf das Radio klickst, öffnet sich die Seite, auf der Du den Audio-Link öffnen kannst)

Danke fürs Lesen und Zuhören!

Herzlichst,

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Kultur, Politik und gutes Leben