Israels Siebzigster: Freuden- und Trauertag

Leider ist mir nicht die Sprache eines David Grossmann gegeben. Umso tiefer treffen mich seine Worte, die er anlässlich der Gedenkfeier für gefallene Soldaten und Terroropfer am 17. April in Tel Aviv hielt (hier in der FAZ nachzulesen). Erstmals wurden zu diesem Anlass auch Angehörige palästinensischer Opfer des Konflikts eingeladen. Diese Nachricht berührte mich; sollte sich wirklich etwas gewandelt haben in meinem Land? Als ich hörte, dass der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman die Teilnahme der Palästinensischen Opferfamilien untersagen lassen wollte, überfiel mich wieder dieses Gefühl von Scham („fremdschämend“ sagt man ja heute), von Wut und Abscheu gegen alles, was Lieberman und das ganze Politsystem um ihn herum verkörpert.

Aber dann las ich weiter und erfuhr, dass Lieberman mit seiner Absicht am Obersten Israelischen Gerichtshof gescheitert war. Palästinensische Familien konnten ebenso und gleichzeitig und gemeinsam mit jüdisch-israelischen Familien um ihre Liebsten trauern und ihrer gedenken und den Schmerz teilen und sich vielleicht ein bisschen näher kommen und das Gemeinsame spüren. Das gemeinsame Leid, das gemeinsame Land, dem sie sich alle gleichermaßen verbunden fühlen, vielleicht sogar so etwas wie einen Hauch von gemeinsamer Zukunft, so wie Grossman sie beschreibt.

Und endlich konnte ich meinen eigenen Schmerz erkennen ob dieses Wahnsinns, den ich seit genau zehn Jahren – da lebte ich noch in Tel Aviv – beschreibe, dokumentiere, analysiere, versuche zu verstehen und zu vermitteln. Der verändert werden will und muss. Der Wahnsinn von Krieg und Unterdrückung, von falscher Macht, von Ungerechtigkeit und Willkür, der schon so vielen Menschen das Leben gekostet hat und der so viel Leid hervorruft. Wie sollen Menschen das ertragen? Wo soll sie das hinführen? In diesen Tagen denke ich viel an meine große Familie und an meine vielen Freunde in Israel und frage mich, wie es ihnen geht mit ihrer Fassade der angeeigneten Stärke, des anerzogenen überbordenden Selbstbewusstseins, mit ihrer Überzeugung, liberal und links zu sein und die einzig wahre und verteidungungswürdige Position in diesem Land zu vertreten und vor allem: mit ihrer Überzeugung, keine Wahl zu haben.

Ihnen möchte ich zurufen: „Ihr habt eine Wahl! Ihr seid stark und schwach und Ihr seid menschlich und habt Wünsche und Träume und wollt dasselbe wie Eure palästinensischen Nachbarn! Wacht endlich auf, hört auf Eure Herzen, hört auf Leute wie David Grossman! Niemand will Euch Böses – aber alle wollen ein gutes Leben, genau wie Ihr es habt. Es steht ihnen zu, und es ist unter Eurer Würde, ihnen das zu verweigern. Es ist nicht unter Eurer Würde, um Verzeihung zu bitten für von Euch verschuldetes Unrecht, ebenso wie es nicht unter Eurer Würde ist, Anerkennung für Euer Leid und Eure Ängste zu erbitten und zu erwarten. Aber die Würde ist auf allen Seiten. Die Würde ist beim Menschen, egal bei welchem. Achtet sie!“

Gerne würde ich mit ihnen feiern – mit ‚meinen Leuten‘ – die Freude der Freiheit und der Selbstbestimmung mit ihnen teilen. Doch ich kann es nicht, solange meine anderen Freunde, die palästinensischen, die selbe Freude nicht auch feiern können. Aber ich bin der Überzeugung, dass es eines Tages anders sein wird, dass auf palästinensischer Seite weiter friedlich marschiert wird und dass auf israelischer Seite die Fassade bröckelt, wenn immer mehr Israelis Menschen wie Grossman (oder Gideon Levy oder Amira Hass oder Ayman Odeh oder Jonathan Cook) zuhören. Warum ich der Überzeugung bin? Ich kann es nicht sagen; ich sammle eben Hoffnungsschimmer wie ein Ertrinkender die Strohhalme. Es ist ein Hauch von Perspektive (was mehr meint als Hoffnung), – klein, aber viel versprechend – für den es lohnt, die Tränen der Scham und der Wut und der Verzweiflung und des Schmerzes über all die Verluste der einen und der anderen Seite aus dem Gesicht zu wischen, die Tastatur zu behämmern, zum Telefon zu greifen, zu reden, zu singen, zu erklären, zu überzeugen, Mauern und Ängste zu überwinden; sich selbst mit all den eigenen Zweifeln und Verletzlichkeiten öffentlich zu zeigen und die Stirn zu bieten, egal wie oft man eins auf die Nase kriegt, und all die Energie genau hierhin zu stecken.

Wie sehr wünsche ich mir, dann endlich die Tränen fließen lassen zu können, Freudentränen und Tränen der Erleichterung. Ich sehe uns tanzen am Strand von Tel Aviv, wir machen uns auf den Weg nach Süden, von wo uns tanzend unsere Freundinnen und Freunde aus Gaza entgegen kommen (frau wird ja noch träumen dürfen). Danke, dass Du bis hierhin gelesen hast und meine kleine Vision mit mir teilst. Das macht für mich einen Unterschied.

7 Gedanken zu „Israels Siebzigster: Freuden- und Trauertag“

  1. Liebe Nirit Sommerfeld, ich bin im Zuge meiner Auseinandersetzung mit dem Rauswurf von Dieter Hanitzsch bei der SZ wegen einer Nitanjahu Karikatur bin ich auf sie gestoßen. Selbst wenn man, wie sie in Israel geboren wurde, wird man als Antisemitin beschimpft, wenn man die Israel-Politik kritisiert? Das zeigt genau, mit welchem Geist man es bei Knobloch & Friends zu tun hat. Ich wohne direkt an der Münchner Synagoge, die ich sehr schön finde. Ich finde es auch gut, dass Frau Knobloch dies zusammen mit Christian Ude als OB durchgesetzt hat. Vieles andere finde ich allerdings gar nicht gut an Frau Knobloch und ihren Freunden. Geradezu pervers finde ich, dass deren Einfluss im Stadtrat so weit geht, dass Sie Ihren Vortrag DAHEIM ENTFREMDET nicht im Gasteig halten konnten. Ich werde sicher bald zu einer ihrer nächsten Veranstaltungen kommen.

  2. Ich fürchte, es ist zu spät für eine Hoffnung. Herr Netanjahu wird seinen großen Krieg- nicht nur gegen den Iran- bekommen. Und dann wird es nur noch mehr Unrecht und Vertreibung und Heimatlosigkeit und Rachegelüste in dem geben, was vom Nahen Osten übrigbleibt. Wenn es sogar zur Annexion Jordaniens käme, damit der Wunsch seines Vaters Benziuon Wahrheit wird, wird die Verbitterung der Verlierer grenzenlos sein. Und wenn Israel an dieser Ausweitung gehindert würde, so drehen die Rechten, die um den Sieg gebracht worden sind, noch mehr durch.

  3. Liebe Nirit
    danke Dir für deinen stetigen Einsatz für ein Miteinander von Mensch zu Mensch.
    Was anderes weiß ich auch nicht.
    Herzlichen Gruß
    Andreas

  4. Danke liebe Nirit,

    ich teile Deinen Schmerz und Deine Freude!!!
    Deine Worte haben mich zutieftst berührt, nicht für dieses Land
    habe ich zwei Jahre im Armee gedient, und meine Liebsten verloren. Die Hoffnung auf beide Staaten nebeneinander,
    mit Palästinensischen Nachbarn wie in meiner Kindheit, gebe ich nicht auf.
    Mach weiter so!!! Wünsche Dir viel KraftIII

    Ahuva Sommerfeld

  5. Liebe Nirit,

    danke für Deinen aufrichtigen Brief.
    ich wünsche Dir die Kraft und die Zuversicht – und uns allen das Interesse, die Offenheit und den Mut – weiter an Deinem Traum, den Du mit Vielen, wenn auch noch zu Wenigen, teilst, weiter zu verfolgen. Und ich hoffe sehr, dass Du und wir alle noch erleben, wie zumindest ein Stück davon wahr wird.

    Pass auf Dich auf!
    LG. Werner

  6. Liebe Nirit,
    wie sehr haben wir an Sie gedacht, als in der Presse und im Radio die Berichte über die Feierlichkeiten in Israel kamen. Es war uns klar, dass Sie dabei „zwischen den Stühlen“ sitzen. Und wie gut können wir Ihre Zeielen nachvollziehen!

  7. Deine Worte haben mich sehr berührt. Woher nimmst Du diese Kraft? Jedenfalls versuche ich weiterhin dich und unser Anliegen mit meinen leider sehr bescheidenen physischen Ressourcen zu unerstützen.
    Gib Acht auf dich!
    Thomas
    🙂

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