Nach ihrem einzigartigen schauspielerischen Debüt und dem grossartigen Erfolg als Hauptdarstellerin in STERN auf dem Max-Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken ist meine Mutter Ahuva Sommerfeld am 8. Februar 2019 nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Sie verließ ihren Körper im Kreise ihrer Liebsten in ihrer Wohnung in Berlin.
Zur selben Zeit, in der ich um meine Mutter trauere, muss ich mich mit einem gesellschaftspolitischen Skandal beschäftigen: Der Verleumdung von Jüdinnen und Juden des Vereins ‚Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost‘, die sich wie ich für Frieden, Gerechtigkeit und Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen. Da diese menschenrechtsbasierte Arbeit zwangsläufig mit Kritik an der Besatzungspolitik des Staates Israel einhergeht, ist es heute in Deutschland üblich, solche Kritiker als Antisemiten zu bezeichnen.
Was ich darüber denke, habe ich in einem offenen Brief an den Göttinger Oberbürgermeister, die Universitäts-Präsidentin und den Sparkassenvertreter geschrieben. Alle drei haben ihre traditionelle Unterstützung zum Göttinger Friedenspreis, der in diesem Jahr an die ‚Jüdische Stimme‘ verliehen wird, entzogen.
Der Göttinger Friedenspreis wird seit 1998 von der Dr. Roland Röhl Stiftung ausgelobt und an herausragende Institutionen wie PRO ASYL und Reporter ohne Grenzen sowie an Persönlichkeiten wie Egon Bahr und Konstantin Wecker verliehen. Die diesjährige Preisträgerin ‚Jüdische Stimme‚ (JS) versteht sich als deutscher Ableger der „European Jews for a Just Peace“ (EJJP) und setzt sich aus säkularen und praktizierenden Jüdinnen und Juden aus Deutschland zusammen, aus Menschen, die entweder deutsch-jüdische Wurzeln und Holocaust-Überlebende als Vorfahren haben oder in den letzten Jahren aus Israel nach Deutschland, vorwiegend nach Berlin, ausgewandert sind — meist weil sie die politischen Verhältnisse in ihrer Heimat nicht ertragen konnten.
Die Ankündigung der Preisverleihung rief den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster auf den Plan, der die Schamlosigkeit besaß, die JS wegen ihrer punktuellen Unterstützung der BDS-Bewegung öffentlich als antisemitisch zu diffamieren. Die Göttinger FDP-Abgeordnete Oldenburg schloss sich dieser Diffamierung an, weitere Proteste gegen die Preisverleihung folgten. Das Ergebnis: Der Göttinger Oberbürgermeister, der seit Anbeginn der Preisverleihung zum Empfang der Stadt einlädt, sagt für dieses Jahr den Empfang ab; die Uni-Präsidentin entzieht der Veranstaltung, die seit 1998 jährlich in der Universitätsaula ausgerichtet wird, die Räumlichkeit; und die Sparkasse, die traditionell 2.000 € für die Nebenkosten der Preisverleihung zur Verfügung stellt, zieht ihr Sponsoring zurück. Alle drei begründen ihre Schritte damit, sie wollten „neutral“ bleiben.
Unter Jüdinnen und Juden, die sich für eine friedliche Lösung, für Ausgleich und Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen, erzeugen diese Verleumdungen und der Druck, der damit ausgeübt wird, Entsetzen und Wut. Die Mit-Gründerin der Jüdischen Stimme, emeritierte Professorin und ehemalige Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin schrieb daher einen persönlichen Brief an ihre Kollegin Frau Prof. Dr. Ulrike Beisiegel, Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen. Darin kritisiert sie die Entscheidung des Präsidiums der Göttinger Universität, dem Festakt der Verleihung in diesem 21. Jahr wegen der Auszeichnung der JS für ihre menschenrechts- und friedenspolitische Arbeit ohne Angabe von triftigen Gründen eine Absage zu erteilen. Zu erwarten sei von der Universität nicht zuletzt aufgrund ihres weltweit anerkannten Rufs zumindest der Mut, eine Mittlerrolle zwischen den Konfliktparteien um die Auszeichnung wahrzunehmen und ein Rundtischgespräch zu ermöglichen, wie vom Jury-Vorsitzenden Andreas Zumach gefordert.
Fanny-Michaela Reisin hat sich entschieden, diesen sehr persönlichen Brief der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Selten habe ich zu diesem Thema so einen differenzierten, intelligenten, messerscharfen und doch warmherzigen Text gelesen, der zwingend aufzeigt, dass eines unserer wertvollsten Güter dringend geschützt werden muss: die Meinungsfreiheit. Und dafür braucht es offene Gespräche, nicht Diffamierungen und Maulkörbe.
9-seitiger Brief von Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin