Bobby und ich waren fleißig und haben ein Video zusammen geschnitten. Davor allerdings waren wir noch fleißiger und haben gemeinsam gebacken: Einen echten Chemnitzer Stollen nach einem Rezept, das meine Mutter vor vielen, vielen Jahren entwickelte. Als einzigen Anhaltspunkt für die Zutaten hatte sie – selbst eine hervorragende Köchin vor allem orientalischer Spezialitäten – nur die Erinnerungen meines Vaters Rolf. Der beschrieb ihr ganz genau, wie es in dem Haus am Antonplatz 15 in Chemnitz duftete, wenn im November jeden Jahres seine Mutter Margarete Stollen buk.
Im Dezember 1934 verstarb meine Großmutter Margarete; mein Vater war damals 15 und kam kurz darauf in ein Schweizer Internat am Genfer See, der Ecole d’Humanité. Der Rest der deutschen Katastrophe blieb Margarete erspart.
Mich hat immer fasziniert, dass meine Oma Margarete, die den Erzählungen meines Vaters zufolge kosher kochte und am Freitag Abend die Shabbes-Kerzen anzündete, sich offenbar nicht daran störte, dass der Stollen das traditionelle Weihnachtsgebäck ihrer christlichen Nachbarn und Freunde war. Denn die Familie Sommerfeld fühlte sich im Chemnitz der 20er und sogar noch Anfang der 30er Jahre in erster Linie als Deutsche. Sie sprachen Deutsch – nicht Jiddisch – waren nicht besonders religiös, hatten ihr gut laufendes Tuchgeschäft und verbrachten ihre Freizeit mit anderen deutschen Freunden im Erzgebirge, in der Schweiz oder an der Ostsee.
Sie fühlten sich in erster Linie als Deutsche. Wie sonst wäre es zu erklären, dass mein Großvater Julius, ein Offizier des Kaisers und Träger des Eisernen Verdienstkreuzes im Ersten Weltkrieg, immer wieder nach Chemnitz zurück kehrte, selbst nachdem er seinen einzigen Sohn, meinen Vater Rolf, 1937 auf einem Schiff nach Palästina brachte? Selbst nachdem sein Haus enteignet und als Sammelstelle für Juden vor dem Abtransport in die Vernichtungslager missbraucht worden war? Selbst nach einem Besuch in New York 1939, wo er andere Freunde und Verwandte hingebracht hatte, wovon eine damals datierte Fotografie zeugt?! Eine dieser Verwandten erzählte mir hochbetagt Jahrzehnte später, sie hätten ihn beschworen, die Rückreise nach Chemnitz nicht anzutreten. Er soll mit einem Lächeln geantwortet haben: „Von diesen paar Braunhemden lasse ich mir meine Heimat nicht nehmen.“ Der Rest ist Geschichte.
In dem kleinen Video, das ich hier mit Euch teile, gedenke ich meiner Großeltern Margarete und Julius Sommerfeld, die ich nie kennen lernen durfte. Sie stehen stellvertretend für abertausende ähnlicher Geschichten und Schicksale. Ich erinnere auch an meinen Vater Rolf, der sein Überleben seinem Vater zu verdanken hatte und der mir über viele Umwege und auch noch lange nach seinem viel zu frühen Tod im Jahre 1980 so viel Deutsches, so viel Europäisches mit auf den Weg gegeben hat. Ich musste sehr erwachsen werden, um das wirklich zu begreifen; denn in der Realität kannte ich von klein auf nur die Verwandtschaft meiner Mutter, aus Jerusalem stammend, im Maghreb wurzelnd. Den Koch- und Backkünsten meiner Mutter haben wir Margaretes Stollen zu verdanken, den sie durch jahrelanges Ausprobieren kreiert hat und den ich seit vielen Jahren im November backe. Und vielleicht tun meine Töchter dies auch eines Tages für ihre Kinder und Freunde – darauf hebe ich mein Glas und sage allen Widrigkeiten dieser Welt zum Trotz:
Le’Chaim! Auf das Leben!
Solche wie uns wird es immer geben.
(ojf Jiddish: Mir lebn ejbig!)
Übrigens: Die Musik Bigeleisen zu dem Video hat meine Tochter Lili mit mir und für mich geschrieben (sie kann das deutlich besser als ich; eingespielt von KLEZMORIM 2009 für die CD JIDDISCHE WEIHNACHT).