Was ich noch zu sagen hätte…

… nach dieser langen Zeit: Die Bilder und Zahlen, die Verwüstungen erdrücken mich.

Mehr als ein Jahr und ein Monat sind vergangen, seitdem sich die Welt für Millionen von Menschen radikal und für immer verändert hat. Die meisten von denen, die ich meine, leben zwischen Mittelmeer und Jordan. Doch auch für Palästinenser und Israelis in der Diaspora — oder sollten wir besser sagen: in anderen Ländern außerhalb Palästinas und Israels? — für Juden, Muslime, Araber weltweit ist seit dem 7. Oktober nichts, wie es zuvor war. Das Trauma sitzt tief und es wird Generationen dauern, bis dieser Schmerz überwunden und so etwas wie Heilung stattfinden kann.

An dieser Stelle will ich kurz von mir sprechen, denn Du, lieber Brieffreund, liebe Brieffreundin, hast lange nichts von mir gehört und ich spüre, dass ich Dir eine Erklärung schuldig bin. Mitnichten habe ich mich von meinem Kernthema — Frieden und Gerechtigkeit für Israelis und Palästinenser — abgewandt. Nach wie vor beginnt mein Tag mit der Lektüre von Haaretz, den Tagesberichten von OCHA OpT und anderen Nachrichtenkanälen wie BBC, AlJazeera, MiddleEastEye, +972, BreakingTheSilence und vielen mehr, die ich hier schon oft verlinkt habe. Aber noch nie war ich so ratlos, so frustriert und desillusioniert über die gesamte Situation wie in den letzten Monaten. Was soll ich denn noch sagen zu diesem Horrorszenario, das sich mir täglich bietet, wenn ich in den Nahen Osten, in mein Geburtsland und all die Nachbarländer schaue? Und vor allem: Wie soll ich es sagen?! Es ist kein Geheimnis mehr, dass jede Äußerung, die sich kritisch mit israelischer Politik befasst, in den Generalverdacht des Antisemitismus gerät. Wie absurd das ist, wenn solch ein Verdacht auf jüdische Israelis wie mich trifft, will ich hier gar nicht ausführen. Was soll ich also schreiben, um „beiden Seiten“ gerecht zu werden? Wie soll ich es „paritätisch“ darstellen, dass ich besorgt bin um das Leben der (vielleicht noch lebenden etwa 100) Geiseln und all der Israelis, die immer noch nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten, und extrem besorgt bin um die Zukunft aller Israelis, wenn sie es nicht endlich schaffen, eine komplette Kehrtwende in der Politik ihres Staates zu vollziehen, und gleichzeitig um das Leben von (100.000den, eigentlich Millionen) Palästinensern in Gaza und der Westbank, und der Menschen im Libanon? Meine Sorge breitet sich weiter aus in die gesamte Region, die erfasst sein könnte von einem kriegerischen Flächenbrand, der auch Europa nicht verschonen würde. Dabei denke ich an die Menschen, die Kinder, die Zivilisten, an das Leid, das immer mehr Hass und Gewalt nach sich ziehen wird.

Ich bin es müde zu betonen, dass jedes, wirklich JEDES Leben gleich wert ist und dennoch die Zahlen etwas aussagen über die Verhältnismäßigkeit dieses „Konflikts“. Ich tue mich schwer damit, dass fast die ganze Welt das Vorgehen der israelischen politischen Führung — namentlich Netanjahu, Smotrich, Ben Gvir, Eiland, um nur einige Prominente zu nennen — für kriminell und völkerrechtswidrig hält und die rassistischen, menschenverachtenden, islamophoben Äußerungen dieser Leute hierzulande bestenfalls mit einem Schulterzucken bedacht werden. Mein Postfach ist voll mit markierten Artikeln, die ich eigentlich mit Dir teilen will — und täglich frage ich mich, ob das noch irgend einen Sinn hat. Das (und einige große Veränderungen in meinem Leben, von denen ich am Ende dieses Briefes erzählen werde) hat mich in den letzten Monaten sprachlos gemacht.

Aber einige von Euch Leserinnen und Lesern haben mir geschrieben und Ihr habt mich daran erinnert, dass ich zwar manchmal sprachlos, aber niemals mundtot bin! Danke dafür! Darum geht’s hier jetzt weiter.

Die offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 7. Oktober in Israel wurden von weiten Teilen der Bevölkerung boykottiert, vor allem von Opferfamilien, die immer noch auf einen Deal warten, der ihre Angehörigen endlich aus der Geiselhaft befreit und sie nach Hause bringt. Doch die rechtsradikale, einzig auf Gewalt, Rache und Staatsterror geeichte israelische Regierung sichert weder das Leben der Geiseln noch das ihrer eigenen Bevölkerung, noch das Leben von Juden weltweit, sondern einzig und allein ihre eigenen Machtbedürfnisse. Für mich als Deutsch-Israelin, die das Ganze mit schmerzlicher innerer Nähe und großer physischer Distanz beobachtet und nicht erst seit einem Jahr erforscht, analysiert und beschreibt, sind die Strukturen offensichtlich, die zu der Horrorsituation geführt haben, in der wir uns jetzt befinden.

Die Massaker, die am 7. Oktober durch Palästinenser an vorwiegend israelischen, aber auch an thailändischen,philippinischen, amerikanischen Zivilisten und auch israelischen Militärs verübt wurden, haben eine tiefe Wunde in der gesamten israelischen (und auch jüdischen) Gesellschaft gerissen, die lange nicht vergessen sein wird. Aber lasst uns nicht vergessen, dass der 7. Oktober 2023 kein Einzelereignis war — er ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die neuen Traumata wurzeln auf alten Gewaltereignissen, die wir alle gleichzeitig betrachten müssen, um begreifen zu können, wie alles im Zusammenhang steht. Wir müssen große (und für uns jüdische Israelis schmerzhafte) Anstrengungen mit dem Blick in die Vergangenheit auf uns nehmen, um Kausalitäten zu erkennen, um Verständnis und Empathie füreinander zu entwickeln, um Lösungen für ein sofortiges Ende der Gewalt und eine gerechte, friedlichere Zukunft für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan zu finden.

Hier liefert das neue Buch von Michael Lüders KRIEG OHNE ENDE? reichlich Stoff, um die komplexen Zusammenhänge der Geschichte der vergangenen 120 Jahre bis heute verstehen und einordnen zu können.

Ebenfalls zu diesem Thema jetzt auf Deutsch erschienen: Rashid Khalilis Der Hundertjährige Krieg um Palästina.


Auch ich habe ein Buch geschrieben, einen fiktiven (noch unveröffentlichten) Roman, aus dem ich am 27. November 2024 das erste Mal beim Deutsch-Schweizer PEN-Zentrum lesen werde. Außerdem habe ich meinen Lebensmittelpunkt nach Chemnitz verlegt, wo ich am 3. Oktober, pünktlich zu Beginn des Neuen Jüdischen Jahres, das Museumscafé im Staatlichem Museum für Archäologie smac eröffnet habe. Es ist nach meinem Großvater „Julius im SCHOCKEN“ benannt, der in Chemnitz am Antonplatz lebte und wirkte und dort von Nazis verhaftet und ins KZ verschleppt wurde. Wenn Du HIER nach unten scrollst, kannst Du nachlesen, was es mit dem Namen und der Geschichte auf sich hat. In Chemnitz haben wir auch den Kulturverein ANTONPLATZ e.V. gegründet, von dem ich bald mehr erzählen werde. Und schließlich gibt es noch etwas Musikalisches zu berichten: Wir werden die JIDDISCHE WEIHNACHT demnächst drei Mal in Sachsen spielen: am 29. und 30. November und am 1. Dezember. Alle Daten dazu HIER.


Nun will ich doch noch einige Infos mit Dir teilen. Wenn Du mir schreiben willst, dann nutze gerne die Kommentar-Funktion (auf meiner Website unter der Überschrift dieses Briefes).

Herzlichst,

3sat zum Film No Other Land

Einer der verwerflichsten Tiefpunkte israelischer Politik der vergangenen Wochen, was Rhetorik und Propaganda betrifft: Amsterdam. So durchschaubar, und dennoch von den meisten deutschen Medien einfach nur plump übernommen, während israelische und holländische Medien bereits längst berichteten, dass israelische Fans/Hooligans die Ausschreitungen provozierten. Hier nur zwei andere Berichte dazu vom israelischen Magazin +972 und von Democracy Now.

taz: Der Tod ist die Regel, nicht die Ausnahme

Immer lesenswert (und regelmäßig): Der Newsletter vom Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern BIP

Älter, aber immer gut und lesenswert: Charlotte Wiedemann auf der Seite von medico international.