Israelis verstehen

Sie essen Gras in Gaza. Wissen die Menschen das nicht in Tel Aviv?

Sie, die überlebt haben, sind aus dem Norden geflohen, wenn sie noch gehen konnten. Sie sind weiter nach Süden gezogen, wenn sie noch Beine und Arme hatten, und haben diejenigen getragen, deren Gliedmaßen oft ohne Narkose und Schmerzmittel amputiert wurden. Ihnen wurde eine safe zone versprochen, aber in Wahrheit sind sie nirgendwo sicher. Ihnen wurden auch andere Versprechungen gemacht: dass kein Stein auf dem anderen bliebe, dass man sie ausmerzen würde, vernichten und vertreiben wie Tiere, ihnen Treibstoff für ihre Generatoren entziehen, ihnen den Zugang zu Lebensmittel und Wasser verweigern. Diese Versprechen werden gehalten. 

Das Internet ist voll von Berichten und Videos von nicht enden wollenden schweren Bombenangriffen auf Gaza und ihre verheerenden Folgen. Seit dem 7. Oktober sind dort über 36.000 Menschen getötet worden, wenn man die rund 8.000 dazu zählt, die als „vermisst“ gelten und die vermutlich verletzt unter Schutt auf ihren langsamen Tod warten oder mittlerweile verwesen. Dazu kommen an die 70.000 Verletzte, denen von einstmals 36 Krankenhäusern keines mehr voll funktionsfähig zur Verfügung steht. Wer nicht tot oder verwundet ist, hat sein Zuhause, Freunde und Verwandte verloren, leidet Hunger und ist auf der Flucht innerhalb des eigenen Gefängnisses. Das betrifft etwa 90% aller Menschen in Gaza. Fast zwei Millionen Menschen. Über die Hälfte von ihnen Kinder. In Gaza droht die weltweit größte Hungerkatastrophe, bereits jetzt sind neun von zehn Kindern unterernährt. Krankheiten grassieren, vor Epidemien wird gewarnt. 

Am 10. Februar 2024 hat Benjamin Netanyahu die Evakuierung von 1,4 Millionen Menschen aus Rafah, dem südlichen Gazastreifen, angeordnet. Evakuierung bedeutet: in die Wüste schicken. Auf die ägyptische Sinai-Halbinsel. Anderthalb Millionen Menschen, die innerhalb des Gazastreifens bereits mehrfach vertrieben wurden, nachdem ihre Vorfahren 1947/48 bereits als Vertriebene aus den umliegenden Dörfern dorthin deportiert wurden. 

Die Mehrheit der Weltgemeinschaft ist darüber entsetzt. Das zeigt eine Abstimmung in den Vereinten Nationen zu einem sofortigen Waffenstillstand, bei der 153 Länder dafür stimmten, 10 dagegen. 23 Länder enthielten sich, darunter auch Deutschland. In Deutschland geht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sicher nicht konform mit der Meinung der deutschen (= israelischen) Regierung und der allermeisten Medien, die immer noch vom „Recht Israels auf Selbstverteidigung“ schwadronieren. Aber was denken Israelis? Steht wirklich die Mehrheit der jüdischen Israelis hinter dem Regierungskurs des „Krieg bis zum totalen Sieg“?

Die allermeisten Israelis wissen nicht, was in Gaza derzeit wirklich passiert. Klingt nicht plausibel, ist aber so. Die allermeisten Israelis sehen den ganzen Tag fern oder lesen, wie viele andere Leute auch, die Schlagzeilen in den Sozialen Medien, so wie der Algorithmus es ihnen vorgibt. Hier wie dort erfahren sie, dass ganz Gaza bevölkert ist von Terroristen; manche von ihnen würden Zivilisten, Krankenhäuser und UN-Einrichtungen für ihre terroristischen Zwecke missbrauchen. Ihr einziger Lebenszweck sei es, Juden, vor allem israelische, zu vernichten. Diese Sichtweise basiert auf jahrzehntelang gelieferten Informationen, die Israelis durch Medien und Regierung, aber auch in Schulen und bei den meisten sozialen Interaktionen angeboten werden. Dabei lernen sie, dass Araber (von Palästinensern ist eigentlich nie die Rede) Juden hassen, wir wiederum sie hassen und dass sich daran niemals etwas ändern werde. Sie lernen, dass Araber ungebildet seien, immer nur Hass und Rache im Schilde führen, keine eigene Kultur kennen und nicht mal ihre Kinder so sehr lieben, wie sie uns hassen. Das hatte Golda Meir uns schon vor über 50 Jahren gelehrt, das führte sie als Begründung dafür an, dass es niemals Frieden mit den Arabern geben werde, solange sie uns mehr hassen als ihre Kinder zu lieben. 

Der Schock des 7. Oktober hat sämtliche Traumata der jüdischen Israelis aktiviert. Zweifels ohne steckt in uns allen die generationenübergreifende Erinnerung an Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung. Zweifels ohne gab es darüberhinaus in den vergangenen 75 Jahren seit Staatsgründung für jüdische Israelis dramatische und traumatische Erlebnisse von Gewalt, sei es bei den zahllosen Kriegen und Militäreinsätzen oder bei Terroranschlägen auf zivile Ziele. Dabei haben alle israelischen Regierungen immer dafür gesorgt, dass zwei Grundsätze im israelischen Bewusstsein manifestiert wurden:
1. Wir sind immer die Opfer, die angegriffen werden. 
2. Es gibt weder einen historischen Kontext noch jedwede Rechtfertigung für Gewaltausbrüche; sie werden ausschließlich aus Hass gegen uns entfacht.

Die grausamen, in diesem Ausmaß nie da gewesenen Gewalttaten der Hamaskämpfer am 7. Oktober haben diese Grundannahmen bestätigt. Israelis haben den realen Schmerz, den ganz Israel kollektiv erfasst hat, auch individuell wirklich empfunden. Ohne Ausnahme kennt jede und jeder Israeli jemanden, der direkt von den Angriffen am 7. Oktober betroffen war. Sämtliche regierungsnahen Medien — und bis auf die Tageszeitung Haaretz sind sämtliche Medien regierungsnah — haben ununterbrochen dafür gesorgt, dass grausame Bilder des Horrors israelische Wohnzimmer, Tablets und Handys erreichten. Dazu gehörten auch Nachrichten von enthaupteten Babys, die im Nachhinein zweifelsfrei als Falschmeldungen identifiziert wurden, aber bis heute in den Köpfen der Menschen stecken. Diese Nachrichten- und Bilderflut blieb nicht ohne Effekt. Selbst offene, liberale, progressive Israelis sind bis heute, vier Monate danach, nicht in der Lage, die Situation mit etwas Abstand zu betrachten. Kaum jemand ist bereit, in anderen Medien, sprich dem Internet, nach Informationen zu suchen, die ein anderes Bild von Gaza erzeugen könnten als das einer dunklen kollektiven Terrorzelle. 

Unschuldige Kinder? Schwangere Frauen und Fehlgeburten? Verhungernde Babys? Verletzte ohne medizinische Versorgung? Verzweifelte Menschen in überfüllten Zeltlagern? Diese Videos (wie hier oder hier oder hier) sehen Israelis sich nicht an, das alles gibt es in ihrem kollektiven Bewusstsein nicht. Wie soll man auch an so etwas glauben, wenn man vom Kindergarten an lernt, dass Palästinenser uns all das neiden, was wir in dieser Wüste erschaffen haben und uns daher und ohne jeden vernünftigen Grund vernichten wollen und nur unsere tapferen Soldaten mit Gewehren und Panzern unser Leben verteidigen können? Und dass alle um uns herum Feinde sind, die uns ins Meer werfen wollen und dass es niemanden auf der anderen Seite gibt, mit dem man reden kann? Wer von Opfern auf der anderen Seite spricht, ist ein Verräter, so wie der Lehrer Meir Baruchin, der seinen Job verlor, inhaftiert wurde und Morddrohungen bekommt. 

Unterdessen blockiert eine Menschenmenge religiös-nationaler Israelis die Einfahrt nach Gaza, um Hilfsgüter nicht durchkommen zu lassen. Diese Frau hier spricht vielen Israelis, auch weniger radikalen, aus der Seele, wenn sie euphorisch von der gelungenen Blockade der Lastwagen erzählt, die mit Lebensmitteln beladen nun nicht nach Gaza rollen.

Nur wenige Israelis wagen es, ihre Stimme für einen Waffenstillstand oder für Verhandlungen mit der Hamas zu erheben. Interessanterweise sind es am ehesten noch Angehörige der Geiseln, die vehement dafür protestieren, die Prioritäten neu zu setzen, also auch zu verhandeln. Denn die Freilassung der Geiseln scheint nicht oberste Priorität der Streitkräfte und Netanyahus zu sein. Der „totale Sieg“, den er beschwört, und die komplette Vernichtung der Hamas wird von Analysten weltweit als unrealistisch betrachtet. Vielmehr wird vermutet, dass die niederen Motive für seine gnadenlose Offensive der eigene Machterhalt und die Ablenkung von Korruptionsvorwürfen ist.

Sehen die Israelis all das nicht? Vielleicht doch, aber — so haben wir es aus der Wahrnehmungsforschung gelernt — man kann nur sehen, was man sehen will beziehungsweise worauf die eigene Aufmerksamkeit gelenkt wird. Und diese Lenkung ist eindeutig und gewollt: Israelis haben schwere persönliche Verluste zu betrauern, und nur darauf soll ihr Blick gerichtet sein. Außer den 1.200 Opfern vom 7. Oktober haben mittlerweile auch noch 225 Soldaten ihr Leben verloren, über 1.300 wurden verwundet. Unsere Toten sind ausschließlich Helden; jeder getötete Palästinenser hingegen ist ein eliminierter Terrorist, ganz gleich, ob er 20-jährig mit einer Waffe in der Hand oder als Säugling an der Brust seiner Mutter getötet wurde.  Für Israelis fühlt sich jeder tote Soldat wie der Verlust des eigenen Sohnes an. Besonders, weil wir mit der Mär von der „moralischsten Armee der Welt“ aufgewachsen sind. Dass dem nicht so ist (weil keine Armee der Welt im Krieg „moralisch“ ist), weiß man längst; gerade eben hat sogar die Süddeutsche Zeitung ausführlich dazu berichtet. Sie beschreibt Videos wie dieses oder dieses oder dieses.

Von daher können wir nicht mit Bemühungen von israelischer Seite rechnen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Umso wichtiger sind all die jüdischen Stimmen und die der Israelis im Ausland. Die allermeisten setzen sich für eine umgehende Waffenruhe, die sofortige Freilassung aller noch lebenden Geiseln und Friedensverhandlungen ein. Denn die Geschichte hat gezeigt: ohne Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit wird es niemals Frieden und Sicherheit geben. Auch nicht für Israelis.

In Den Haag wird Geschichte geschrieben

29 namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler lesen aus der Anklageschrift, die Südafrika beim internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Israel eingereicht hat. Der Vorwurf lautet u.a., Israel gehe in Gaza mit dem „Charakter des Völkermords“ vor. Die 11-minütige Lesung ist mit Hintergrund-Info zu sehen auf der Seite des Palestine Festival of Literature oder hier auf YouTube:


Der erste Tag der Verhandlung konnte gestern, am 11. Januar 2024, live verfolgt werden. Das dreieinhalb-stündige öffentliche Hearing kann hier in voller Länge angesehen werden. Ab Minute 25:20 spricht die Chefanklägerin.


Israelis Against Apartheid Statement Following ICJ Hearing

January 11, 2024

On this historic day of the International Court of Justice hearing of South Africa v. Israel, Israelis Against Apartheid would like to express our gratitude and support for South Africa’s appeal to stop the genocide in Gaza.

In recent months we have witnessed and alerted about the genocidal intent and genocidal actions of our government. We have in the past, and recently, called for international intervention in defense of The Palestinian population and are hopeful this is a first step to achieve that. We are also greatly concerned about other ongoing war crimes that are being carried against the Palestinian population, not only in Gaza but also in the West Bank.

Israel, like perpetrators of other historic genocides, has developed a culture of a dehumanizing discourse to rationalize and justify their genocidal actions alongside calls to ethnically cleanse and recolonize Gaza.  

Furthermore, Israeli citizens who are opposing the current genocidal war on Gaza are suffering unprecedented political persecution, such as severe limitations of their right to protest, violent arrests, loss of jobs and death threats from right wing militants. The situation is critical. The Israeli Apartheid state is transforming to a full scale fascist regime. Soldiers and armed citizens are roaming the country, with an understanding that there is no limit to what they are permitted to do in defense of Jewish supremacy and jewish rule.

The massive use of „dumb bombs“ targeting everyone in Gaza, the displacement of the Gazan population, the refusal to stop the war, no matter the price, and military practices that endanger the remaining captives, show that the two declared aims of the war – dismantling Hamas and bringing the abducted back home – are not the cabinet’s goals. We are convinced that the Israeli political and military objective is to cleanse Gaza of its Palestinian population through death and expulsion. 

An immediate halt of Israel’s genocidal assault is imperative. It is also the only hope of freeing the surviving Israeli hostages held in Gaza. Palestinian hostages, political prisoners, including child prisoners and hundreds of prisoners held without charges by Israel, must also be unconditionally freed.

As Israelis of Jewish origin we insist: Never again, for anyone!

It is essential to prevent Israel from carrying out its declared plan to complete the Nakba that it began in 1948. Only then can we begin to dismantle Israeli apartheid, restore the rights of the Palestinian indigenous population, including the implementation of the right of return, recognized in UN resolution 194, and begin to co-create a decolonized Palestine where all citizens will have equal rights regardless of their faith, their ethnic group or their national identity. 

Israelis Against Apartheid

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FB: https://www.facebook.com/profile.php?id=100064911781456 („Israeli Apartheid“)
Website: https://jews4decolonization.wordpress.com/

G wie Gaza

Gänsebraten
Geschenke
Gaza Gaza Gaza
Gesellschaftsspiele
Gaza
Girlanden zu Silvester
Gaza
Geiseln, Kindergeiseln, erschossene Geiseln
Genozid
Gebären in zerbombten Gebäuden
Gaza Gaza Gaza Gaza Gaza Gaza Gaza
Gasvorkommen
Gräber
Grundwasser unbrauchbar
Gesundheit, mangelnde
Gaza, Gaza! GAZA!!!
Gottverlassen
Globales Schulterzucken
Gutes Neues!
Nur nicht für Gaza
Gaza, Gaza! Gaza. Gaz . Ga . Ga . G . G . G . . .
G wie Gaza
Gaza war einmal


Gesammeltes / Gefundenes / Gesendetes aus den vergangenen Tagen — 
Weihnachten:

  • Die bewegendste Weihnachtspredigt, die ich je gehört habe, von Reverend Dr. Munther Isaac aus der Lutheran Christmas Church in Bethlehem:
  • Amer Zahr, palästinensisch-amerikanischer Comedian, Jura Professor, Autor, Sprecher und politischer Aktivist, hat sich schon mehrfach zu Weihnachten geäußert. Hier sein aktuelles Instagram-Video 2023.
  • Auch der britisch-jüdische Comedian Alexei Sayle, einst zum größten Stand-Up-Comedian aller Zeiten gekürt, hat ein vierminütiges Video zu Weihnachten produziert, das gar nicht mal so lustig ist.

Allgemeine Lage:

  • Im zehnminütigen Interview gibt Michael Lüders im Deutschlandfunk einen genauen Überblick und eine scharfe Analyse der Gesamtsituation: brillant, auf den Punkt, desillusionierend. Leider teile ich seine Meinung, was die Zukunft des Nahen Ostens angeht.
  • Aus dem Update #77 der UN-Organisation OCHA oPt vom 26.12.23:
    Zwischen dem 23. und 26. Dezember wurden die schweren israelischen Bombardierungen aus der Luft, zu Lande und zu Wasser in weiten Teilen des Gazastreifens fortgesetzt, insbesondere in der mittleren Zone Gazas, wo die israelischen Streitkräfte Berichten zufolge am 24. und 25. Dezember mehr als 50 Angriffe auf drei Flüchtlingslager — Al Bureij, An Nuseirat und Al Maghazi — durchführten. Es wurden Dutzende von Todesopfern gemeldet, und die Verbindungsstraßen zu diesen Lagern wurden zerstört, was die Lieferung von Hilfsgütern an die Bedürftigen behinderte.

Hospitäler, Gesundheitswesen, humanitäre Krise in Gaza:

  • Bekanntlich hat die israelische Armee das größte Krankenhaus in Gaza, das Al-Shifa-Hospital bombardiert, besetzt und betriebsunfähig gemacht. Die Washington Post hat dazu recherchiert und konnte Israels Behauptung, dort sei eine Hamas-Kommandozentrale, nicht bestätigen; auf Deutsch ist der Bericht im Merkur erschienen.
    Huffpost schreibt dazu: Evidence Doesn’t Support Israeli Claims That Hospital Was Hamas Command Center

  • Dr. Ghassan Abu Sittah ging mit Ärzte ohne Grenzen Mitte Oktober von London nach Gaza, um als plastischer Chirurg Hilfe zu leisten. Hier berichtet er im zweiteiligen Interview von seinen Erfahrungen und warum er sofort wieder nach Gaza gehen würde:
  • Das israelische Magazin +972 schreibt in einem detaillierten Bericht zur Gesundheitskrise in Gaza u.a.:
    Israel hat seit Beginn des Krieges 310 Angehörige des Gesundheitswesens getötet, 102 Krankenwagen zerstört und 138 Gesundheitseinrichtungen unbrauchbar gemacht, darunter 22 Krankenhäuser und 52 Zentren für die medizinische Grundversorgung. Außerdem hält die Armee 93 Angestellte des Gesundheitswesens fest, darunter die Leiter der drei wichtigsten Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen.

  • Ein ausführlicher Podcast von Electronic Intifada zur akuten Katastrophe in Gaza, wo 90% der Bevölkerung — das sind rund 2 Millionen Menschen! — von der größten Hungerkrise auf dem Planeten bedroht sind. Mit hochkarätigen Gästen, u.a. Craig Mokhiber (ab Minute 6), der kürzlich aus Protest gegen die UN-Politik als Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte zurückgetreten ist:

Kampfhandlungen:

  • Breaking the Silence, die israelische Organisation von Soldatinnen und Soldaten, die ihr Schweigen über systematische Verbrechen während ihres Militärdienstes brechen, hat diese Broschüre mit 111 Zeugenaussagen vom Gaza-Einsatz von 2014 publiziert:
    https://www.breakingthesilence.org.il/pdf/ProtectiveEdge.pdf

  • Professor Menachem Klein, den ich bei all meinen Reisen nach Israel und Palästina treffe, hat diesen Artikel für das israelische Magazin Local Call und +972 geschrieben. Er sagt: Die israelische Arroganz hat einen politischen Weg für Palästina vereitelt. Der 7. Oktober offenbart dafür den Preis.

  • Und während die Welt (manchmal) nach Gaza sieht, wird das Leben der Palästinenser in der Westbank von Tag zu Tag unerträglicher. Seit dem 7. Oktober sind dort 221 Menschen getötet und knapp 3.000 verletzt worden. Täglich gibt es Angriffe von Siedlern und Militär, wie hier im Guardian von einer Gesundheitsforscherin aus der Bir Zeit Universität in Ramallah berichtet wird.

Juden und Israelis:

  • Wenn man seine kritische Meinung zu israelischer Politik zu deutlich äußert, kann man nicht nur in den USA seinen Job als Weihnachtsmann verlieren, sondern auch in Deutschland, wie wir aus vielen Fällen wissen (z.B. Oyoun; meine eigenen Ausladungen und Absagen zähle ich gar nicht mehr). In Israel haben viele Palästinener mit israelischem Pass ihren Job verloren, aber auch jüdische Israelis wie Nurit Peled-Elhanan (eine meiner persönlichen Heldinnen), die als Professorin von ihrem College in Jerusalem suspendiert wurde. Was da genau ablief, beschreibt sie in diesem Video-Interview:
  • Der Dokumentarfilm ISRAELISM erzählt die Geschichte junger jüdischer Amerikaner, die nach Israel einwandern und von der Realität des Landes schockiert sind. Der Film ist bis 1. Januar für 5€ online abrufbar — nicht verpassen! Hier der Trailer:
  • Der israelische Knesset-Abgeordnete Dr. Ofer Cassif von der „Hadasch“-Partei, die sich mit links-theoretischen Idealen für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben von Israelis und Palästinensern einsetzt, gibt in diesem dreiviertelstündigen Gespräch einen tiefen Einblick in die derzeitige israelische Gesellschaft und Politik:

Deutschland:

  • In diesem Spiegel-Artikel kommen „ganz normale“ jüdische Siedler zu Wort; diejenigen, die vielleicht mal in der Minderheit waren, aber die mit der derzeitigen israelischen Regierung das Sagen haben. Seit Jahrzehnten arbeiten sie kontinuierlich an ihrem Traum von Groß-Israel — nicht nur „from the river to the sea“, sondern auch ausschließlich jüdisch besiedelt und „araberfrei“. Etnische Säuberung bereitet ihnen dabei keine Bauchschmerzen, im Gegenteil.

Würde man alles andere weglassen und nur diesen einen Artikel lesen, zum Beispiel in deutschen Ministerien, dann muss ich Dich fragen, Deutschland: An wessen Seite stehst Du? Welches Israel verteidigst Du mit Worten und Waffenlieferungen? Wie lange wirst Du noch Juden und Deutsch-Israelis, die Unrecht beim Namen nennen, als Antisemiten und Israelhasser diffamieren? Wann fängst Du endlich an, Dich klar zu positionieren: für Frieden, für Gerechtigkeit, für ein Ende der Gewalt? Für Juden in Deutschland, die sich dafür stark machen? Wann?? WANN????


Wenn Du, lieber Brieffeund, liebe Brieffreundin, bis hierhin gelesen hast: Danke. Ich werde Dir jetzt eine Weile lang nicht mehr schreiben (habe ich beim letzten Brief auch schon gesagt, aber jetzt ist es wirklich so weit, versprochen). Du hast also jede Menge Zeit, Dir alle Artikel und Videos in Ruhe anzusehen. Bitte leite diesen Brief weiter. Und bitte gib nicht auf (auch wenn ich selbst momentan so klingen mag, als hätte ich aufgegeben. Hab ich nicht!). Irgendwann wird alles besser werden, es kann nicht anders sein.
Wenn Du meine Arbeit über STEADY unterstützen möchtest, freue ich mich sehr, wenn Du unten auf mein Bild klickst (alles Weitere wird dort erklärt). Das wäre eine gute Tat zu Beginn des neuen Jahres, für das ich der Welt nur eines wünsche: GERECHTIGKEIT OHNE GEWALT.

Herzlichst,

PS: Soeben erschien in Haaretz die Reihe A New Kind of Hell in Gaza ; zwar nur für Abonnenten, aber einige Artikel konnte ich hier in voller Länge verlinken:

by Avshalom Halutz
We desperately need a new definition, a new word, to describe the unthinkable and unique reality that the people in Gaza are facing since Hamas attacked Israel on October 7, triggering a new war in the Strip. Just a 90-minute drive from Tel Aviv, a place exists where streets are piles of dust, debris and the rubble of destroyed buildings. There are cities without hospitals, schools, parks, libraries – or hope. An inconceivable reality, where thousands of children are being killed in their beds by bombs dropped from the skies, where almost nobody has enough food or water for survival. A small hell you can never leave. A place for nobody: an ongoing human tragedy without any end in sight.

Jews have always carried a deep fear of another attempt to erase them from the face of the earth. Many have this sense of doom embedded within them. But judging by the images and news coming out of the bloody streets of Gaza – the photos of mass graves, of people losing their entire families in one airstrike, of dead children in bloody shreds – it seems like in its attempt to push death as far as possible from its doorstep, Israel has fulfilled its worst nightmares right next door.

Haaretz is one of the only media outlets in Israel that provides objective, up-to-date and extensive coverage of the cost of war in Gaza. Often through the eyes of those caught under fire. Even if there isn’t yet a word for this extreme human condition, we strive to tell the world as much as we can about the events taking place there.

Hier noch der Leitartikel von Haaretz in der hebräischen und der englischen Ausgabe vom 24.12.23:


Nicht einmal für die Familien der Opfer des Nova Tribe Festivals vom 7. Oktober hat die israelische Regierung ein offenes Ohr, geschweige denn einen Plan:

Drei Dinge noch: Krieg, Verhinderungen, Licht

Liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,

gefühlt ist das mein 27. Versuch, diesen Brief zu schreiben. Soll ich beginnen mit:
Heute morgen wieder, wie jeden Morgen, als erstes die Daten der UNO-Organisation OCHAoPt gelesen: …in Gaza at least 18,787 fatalities and about 50,594 injuries…
Oder soll ich schreiben:
Seit dem 7. Oktober schwebt die Zahl „1.200 Tote“ wie ein Menetekel über meinen Gedanken, denn Israel handelt nicht nur nach dem Prinzip „Aug‘ um Auge“, sondern auch nach dem Prinzip, dass für jeden getöteten Israeli zehn Palästinenser getötet werden müssen. Die Zahl 12.000 ist längst überschritten, und ich stelle mit Entsetzen fest, dass wir die Toten nur anfangs dutzendweise zählten und jede Zahl, jeder einzelne Tote uns erschaudern ließ, während wir mittlerweile nur noch in Tausender-Schritten zählen. Die Erschütterung fühlt sich taub an.

Mir ist in diesem Krieg noch einmal deutlich geworden, dass wir — ich meine wir, die darüber sprechen und berichten und warnen und mahnen — dass wir uns immer wieder bemühen müssen zu unterscheiden zwischen unserer emotionalen Sichtweise und der politisch-analytischen Betrachtung. Und dass das fast nicht zu trennen ist.

Zum desaströsen kriegerischen Wahnsinn in Gaza, zu Massenmord und Vertreibung, zur geplanten „großen Nakba“ meiner israelischen Regierung (die nicht in meinem Namen spricht!), zum US-Veto gegen Waffenstillstand (1 Stimme gegen alle anderen… wie nur kann man dagegen sein, die Waffen ruhen zu lassen?!), zu wiederholten deutschen Aufrufen, an der Seite Israels zu stehen (welches Israel genau ist gemeint? Das heutige rechtsradikal regierte? Das von vor 1967? Oder das Israel, das einst im Schatten des Holocaust Juden einen sicheren Hafen und gleichzeitig all seinen Bewohnern gleiche Rechte versprach?), zu einer drohenden Eskalation, die eine täglich größere Gefahr für die ganze Region darstellt (was geschieht nach dem Krieg, wenn also Gaza zerstört und von 2 Millionen Flüchtlingen die meisten obdachlos sind? Wird Ägypten ein neues Freiluftgefängnis im Sinai akzeptieren? Wird die Hamas wirklich eliminiert sein? Wird die arabische Welt ihre gegen Israel gerichteten Krieger und Raketen noch zurückhalten können/wollen? Wird sich dann die USA einmischen und womöglich dann auch der Iran? Wird, wie es die Staatsräson verlangt, Deutschland seine Soldaten aussenden, um an Israels Seite für die Sicherheit des jüdischen Staates zu kämpfen? Wird Israel das überleben??) — zu all dem kann ich nichts weiter tun als verzweifelt alle Menschen darum bitten, sich für eine De-eskalation einzusetzen! Geht auf die Straße, unterschreibt Petitionen für sofortigen Waffenstillstand und für Verhandlungen, um Geiseln und Gefangene zu befreien! Sprecht mit Euren Nachbarn, Freundinnen, Kolleginnen, mit Gleich- und vor allem mit Andersgesinnten und sprecht Euch aus für das, wofür ich in vielen Gesprächen stummes Kopfnicken ernte:

Frieden wird es nur mit Gerechtigkeit für alle geben.

Dafür müssen wir uns alle stark machen und lauter werden als die Kriegstreiber!


Und damit bin ich beim zweiten Thema dieses Briefes: Sich frei aussprechen heißt, über all die Dinge, über Historie und Fakten und Widersprüche laut und öffentlich nachzudenken, ohne dafür abgestraft zu werden. Wer ein bisschen Hannah Arendt gelesen hat, weiß: Das Sprechen ist ein Akt des Handels — und ja, dabei kann der Mensch Fehler machen (und sich nötigenfalls entschuldigen). Nun soll ausgerechnet der Hannah-Arendt-Preis an Masha Gessen, eine in der Sowjetunion geborene jüdische, denkende, schreibende, intellektuelle handelnde Person nicht verliehen werden. Ich konnte in ihrem langen, sehr lesenswerten Essay im New Yorker keine Fehler entdecken; sie macht sich sehr persönliche und große politische Gedanken und beschreibt an einer Stelle Gaza mit einem Ghetto. Das führt zu einem Aufschrei in der Bremer Deutsch-israelischen Gesellschaft — und zack! — schon ist die Preisverleihung abgesagt. Eigentlich eine Provinzposse, doch leider ist dies kein Einzelfall. Einer der größten Skandale ist die bevorstehende Schließung des Berliner Kulturzentrums Oyoun. Der Vorwurf: „versteckter Antisemitismus“, weil Oyoun mit der Jüdischen Stimme (sic!) eine Veranstaltung durchgezogen hat und die Leitung sowie das ganze Team nicht vor den Drohungen eingeknickt ist. Die Strafe folgte auf dem Fuße —  eine unerhörte Entwicklung und eine große Gefahr für unsere Demokratie.

Für mich ist es mein täglich Brot, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, aber wenn ich es dann, wie jetzt hier, aufschreibe, greife ich mir wieder mal an den Kopf. Wie kann es sein, dass Juden in Deutschland seit Jahren des Antisemitismus bezichtigt werden???? Dass sie ausgeladen oder gar nicht erst eingeladen werden, nur weil sie finden, dass die israelische Regierungspolitik öffentlich kritisiert werden muss? Weil sie Palästinenser als gleichberechtigte Menschen, ja! — als MENSCHEN betrachten, denen Menschenrechte zugestanden werden müssen und die nicht weiterhin wie seit Jahrzehnten unter Besatzung in all ihren Rechten beschnitten werden dürfen? Warum begreifen deutsche Politiker und Institutionen, die sich mit Recht Juden gegenüber in einer historischen Pflicht sehen, nicht, dass die Sicherheit Israels sich niemals durch bloße Waffengewalt herstellen lässt, auch nicht durch noch so perfektionierte Besatzungsverwaltung, sondern im Gegenteil diese Form von Kontrolle, Rache, Vergeltung und Gewalt einen Hass und Gegengewalt sät, die in Jahrzehnten nicht zu einem sicheren Frieden führen wird? Das BDS-Argument zieht hier gar nicht, denn ob man Boykott gut oder schlecht findet, kann man sich in einer Demokratie aussuchen, das ist Meinungs- und Geschmackssache. Dass BDS per se nicht antisemitisch ist, sollte mittlerweile durch eindeutige Gerichtsurteile hinlänglich bekannt sein.

A propos Kontrolle: Vorletzte Woche enthüllte das israelische Magazin +972 in seinem Bericht den Einsatz von KI-gestützter Technologie im jetzigen Gaza-Krieg. Der Titel zitiert einen ehemaligen Geheimdienstoffizier, der so wie andere Quellen anonym bleiben will: ‚Eine Massenmord-Fabrik‘: Israels kalkulierte Bombardierung des Gazastreifens. Aussagen früherer israelischer Militärs und Geheimdienstler zufolge operiert die IDF mit einer KI, die um ein Vielfaches schneller Ziele bestimmt, die dann ohne weitere menschliche Kontrolle bombardiert werden. Achtung: Die Bilder und Aussagen sind heftig.


Drittens: In der dunkelsten Jahreszeit sind Religionen und Mythologien bemüht, Licht in die Welt zu bringen — eine schöne Tradition, der ich mich mit unserer Konzert-Lesung JIDDISCHE WEIHNACHT alljährlich anschließe. In diesem Jahr werden wir dieses Programm am kommenden Samstag, den 16. Dezember um 20 Uhr in Chemnitz spielen, einen Steinwurf entfernt von dem Platz, an dem mein Großvater Julius lebte und wirkte und dessen Geschichte den roten Faden in der JIDDISCHEN WEIHNACHT spinnt.

Am Montag Abend erlebte ich in Chemnitz das öffentliche Zünden der Channuka-Kerzen an einem zentralen Platz; im Hintergrund hielten Pegida und andere Rechte ihre wöchentliche Montags-Demo ab. Die Chemnitzer Jüdische Gemeinde hatte für jede Kerze eine Patenschaft vergeben; am Montag hatte die Patenschaft für die fünfte Kerze ein Syrer. Hier ein Ausschnitt seiner Rede.


Zum Schluss noch eine Liste mit den besten Publikationen zum Thema Israel-Palästina. Fürs Neue Jahr, in dem ich mich zu Beginn ein wenig zurückziehen werde, wünsche ich Dir das Allerbeste und hoffe, dass mit dem Licht auch Erleuchtung einziehen möge und wir friedlicheren Zeiten entgegengehen.
Danke fürs Lesen, Mitdenken, Unterstützen… wenn Du noch nicht Mitglied auf meiner Steady-Seite bist, dann werde es doch in 2024! Da gibt es die kostenfreien Briefe und zusätzlich in den Paketen LIEBE, LOVE und AMORE ab monatlich 3,50 € auch ein paar Extras.

Herzlichst,


Michael Lüders bringt in einer guten Stunde alle wichtigen Themen in seinem Videoblog „Staatsraison“ und Kreisliga verständlich auf den Punkt:

Haaretz: Gideon Levy benutzt das Bild eines Dampfdrucktopfes, in den die Palästinenser gezwängt sind; all seine Artikel findest Du HIER.

medico international ruft nicht nur zu Nothilfe-Spenden für Gaza auf, sondern wirbt auch für die Petition Ceasefire NOW

Judith Butler im Interview mit der Frankfurter Rundschau: „(…) ich versuche, eine Geschichte zu kontextualisieren, die nicht am 7. Oktober beginnt (…)“

Pulitzer-Preisträger Chris Hedges hat einen eigenen Blog und schreibt u.a. über den Boomerang, den Israel mit seinen Angriffen auf Gaza auswirft

Wer weniger lesen, sondern lieber hören will: MONDOWEISS hat auf allen gängigen Kanälen einen eigenen Podcast

Deutschlandfunk berichtete in einer kurzen Nachricht vom Tod des Literaturprofessors und Dichters Refaat Alareer bei einem Luftangriff auf Gaza. Sein letztes Gedicht heißt

If I must die, let it be a tale

If I must die,
you must live
to tell my story
to sell my things
to buy a piece of cloth
and some strings,
(make it white with a long tail)
so that a child, somewhere in Gaza
while looking heaven in the eye
awaiting his dad who left in a blaze—
and bid no one farewell
not even to his flesh
not even to himself—
sees the kite, my kite you made, flying up
above
and thinks for a moment an angel is there
bringing back love
If I must die
let it bring hope
let it be a tale

Refaat Alareer ( 23. Sep 1979 – 6. Dez 2023)


Teilung oder Spaltung?

Am 29. November 1947, genau vor 76 Jahren, wurde der UN-Teilungsplan für Palästina von der UN-Generalversammlung als Resolution 181 angenommen. Die damals knapp zwei Jahre alte UNO bestand aus 57 Staaten; 33 stimmten für den Plan, 13 dagegen, 10 enthielten sich und Thailand blieb der Abstimmung fern. Ein Blick darauf, welche Länder damals wie stimmten, lohnt sich (ausnahmsweise empfehle ich hier einen Wikipedia-Link). Dabei sollte man sich ruhig ein wenig Zeit lassen und überlegen, welche Staaten geografisch (in Bezug auf Palästina) lagen und wo welche Interessen zu verorten waren: geostrategisch, wirtschaftlich, ideologisch, religiös.

Die Resolution 181 sollte — laut Wikipedia — „den Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebiets Palästina lösen“. Das britische Mandat sollte innerhalb eines halben Jahres beendet werden, Jerusalem samt Bethlehem sollte als ‚Corpus separatum‘ unter internationale Kontrolle gestellt werden. Die beiden neuen Staaten sollten wirtschaftlich verbunden sein und jeweils eine demokratische Verfassungen erhalten.

„Den Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebiets Palästina lösen“ hat eindeutig nicht geklappt. Die Ethnische Säuberung Palästinas, so auch der Titel von Ilan Pappes* Standardwerk, nahm mit dem 29. Novemer 1947 Schwung auf. Weder die Naqba von ’48 noch die Besatzung von 1967, weder Kriege noch Aufstände noch die Blockade von Gaza seit 16 Jahren haben dem Einhalt geboten, im Gegenteil. Tausende und Abertausende Menschen haben seither in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben verloren, auf palästinensischer Seite sind mehr als zehnmal soviel Tote zu beklagen wie bei den Israelis — und selbstverständlich ist jeder Getötete einer zu viel. Seit dem 7. Oktober sind viele neue Fragen aufgetaucht, Antworten scheint es weitaus weniger zu geben. Mittlerweile gilt es aber eines deutlich festzuhalten: Niemals gab es so viel Spaltung innerhalb der jeweils israelischen und palästinensischen Gesellschaften. War das vergangene Jahr innerhalb Israels sinnbildlich für eine große inner-israelische Spaltung zwischen linksliberalen freiheits- und demokratieliebenden Demonstranten einerseits (von denen sich allerdings Wenige um die Rechte von Palästinensern scherten oder gar das Ende der Besatzung forderten) und nationalistisch-religiösen, teils sich selbst als Faschisten bezeichnenden Anhängern der rechtsradikalen Regierung andererseits, so spaltet heute die Frage nach Gewalt oder Pazifismus die Gesellschaft — weit über Israel hinaus.

*Prof. Ilan Pappe hielt am 27.11.23 einen einstündigen Vortrag in München. Zuvor hatte die Stadt München versucht, die Veranstaltung zu verbieten. Aufgrund einer gerichtlichen Verfügung ist ihr dies nicht gelungen, was sie “aufgrund der Rechtslage bedauert”, siehe unten; sie bestand aber darauf, dass diese Plakate im Saal aufgehängt wurden:

Dies ist offensichtlich reine Hetze gegen einen integren jüdisch-israelischen Gelehrten, eine akademische Persönlichkeit von höchstem internationalem Rang, deren einziger “Fehler” es ist, Israels Politik und damit Deutschlands “unverbrüchliche Solidarität” nicht gutzuheißen. Stattdessen spricht Ilan Pappe in höchst verständlicher und verdaulicher Form als Humanist, als Sohn von Holocaustüberlebenden, als Wissenschaftler und argumentiert mit historischen Fakten und Analysen. Über 200 vorwiegend junge Menschen lauschten begeistert — keine Fahne wurde geschwenkt, keine Parolen gegrölt, kein Hass geschürt. Vor der Türe hatte sich aber Polizei mit mehreren Einsatzwagen positioniert, ebenso wie ein paar Aktivisten von “München ist bunt”, die leider nicht zu überzeugen waren, sich Pappe im O-Ton anzuhören, anstatt wilde Behauptungen aufzustellen, von wegen er “rechtfertige die Taten der Hamas”.
Hier kannst Du Dich in der einstündigen Videoaufzeichnung selbst von den Aussagen Pappes überzeugen.


Ich möchte Dir hier zwei Briefe weiterleiten von Männern, die den bewaffneten Kampf kennen. Ihre Erfahrungen als Kämpfer, Terroristen und Soldaten haben sie gelehrt, dass es andere Wege geben muss. Die einen sind Israelis von Breaking the Silence — Soldatinnen und Soldaten, die nach ihrem Wehr- und Reservedienst ihr Schweigen brechen über ihre Aktivitäten als Besatzungssoldaten. Viele von ihnen sind keine Pazifisten, weil sie grundsätzlich die Armee zur Landesverteidigung als sinnvoll erachten. Die anderen kommen von Combatants for Peace — einer israelisch-palästinensischen Initiative, die Kämpfer beider Seiten vereint, weil sie sich entschieden haben, ihre Waffen abzulegen.

Mich überzeugen ihre Argumente. Nicht erst seit dem 7. Oktober, aber jetzt noch viel mehr. Denn was durch Krieg und Gewalt in den Kindern in- und außerhalb Gazas an Trauma und Hass gesät wurde, wird sich ohne eine gerechte Lösung für alle spätestens in ein paar Jahren in ein Vielfaches an Gewalt und Hass wiederspiegeln. Es ist unser aller Verantwortung, diese Katastrophe nicht zuzulassen.


Chen und Ahmed und viele andere Combatants for Peace kannst Du auf deren Website finden:


Nadav Weiman, Direktor von Breaking the Silence über die Lehren der vergangenen Gaza-Invasionen:

Am Schluss fasst Nadav Weiman seine Erkenntnisse so zusammen:

We should question our assumptions: the lesson we should draw from past conflicts is that force alone cannot afford us Israelis the security we deserve. A political resolution that addresses the roots of the conflict is the only way to defend Israel’s borders and citizens. We must reach binding agreements that secure the rights, security, and freedom of Israelis and Palestinians alike and the self-determination of both people.

aus: https://groundup.org.za/article/learning-from-israels-past-invasions-to-gaza/

Auch wenn gerade die Waffen schweigen: Es ist noch lange nicht zu Ende. Lasst uns weiter schreiben, reden, singen, protestieren und auf die Straßen gehen für einen dauerhaften Frieden, der dem Waffenstillstand nur durch Verhandlungen — und mögen sie noch so schmerzlich sein — folgen kann und muss. Freiheit und Gerechtigkeit für Palästinenser bedeutet langfristig auch Freiheit und Sicherheit für Israelis!

Herzlichst,

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Waffenstillstand — warum nicht für immer?

Die kurze Waffenpause in Israel und Gaza darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Lösung des „Konflikts“ noch lange nicht in Aussicht steht. Die Berliner Zeitung hat mir Gelegenheit gegeben, meine Sichtweise hierzu als Replik auf deren Artikel zu unserer Trauer- und Hoffnungsfeier im Oyoun am 4. November darzulegen, erschienen am 23.11.23:

Für alle, die am 4. November nicht dabei waren in Berlin, gibt es hier eine Videoaufzeichnung der gesamten Veranstaltung.

Wie bereits im Vorfeld angesagt, hat der Berliner Kultursenat seine Drohung wahr gemacht und angekündigt, unserer Veranstalterin, dem Kulturzentrum Oyoun, sämtliche Gelder ab sofort zu streichen, weil sie mit uns zusammengearbeitet hat.

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Deutsche Kulturfunktionäre werfen dem international besetzten Oyoun „versteckten Antisemitusmus“ vor, weil die eine Veranstaltung mit dem Verein Jüdische Stimme durchführen! Nicht nur die Berliner Kulturszene ist fassungslos über diesen Vorgang; über 12.000 Menschen aus aller Welt haben mittlerweile den Offenen Brief des Oyoun unterschrieben und fordern den Berliner Senat auf, die finanzielle Förderung des landeseigenen Kulturstandortes in Berlin-Neukölln fortzusetzen. Unter dem o.g. Link kann man die vollständige Geschichte nachlesen und immer noch unterschreiben. Wer noch mehr Hintergründe und Reaktionen hören will, kann diese Radiosendung auf Refuge World Wide nachhören (englisch), in der ich mit vier anderen Frauen am 15. November in Berlin beteiligt war.


Hier wieder eine Auswahl profunder Texte zum Thema.

Ein hervorragender Artikel von Lydia Both befasst sich mit dem Anspruch deutscher feministischer Außenpolitik, dem diese gerade seit dem 7. Oktober gar nicht gerecht wird. Lydia Both ist Leiterin des Regionalprojekts Politischer Feminismus und Gender der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut. Ich unterstelle, dass u.a. die Lebensrealität, die sie im gebeutelten Libanon erfährt, entscheidend beigetragen hat zu diesem brillianten Text und ihrer klaren Sichtweise.

Ilan Pappe: Why Israel wants to erase context and history in the war on Gaza (hier auf Deutsch)

The Guardian: Gaza’s main hospital has become a ‘death zone’, says WHO

+972: Der erste Winterregen verschlimmert die katastrophalen Bedingungen im kriegsgebeutelten Gazastreifen — ein Foto-Essay

Haaretz: In Eilat verkörpern die Evakuierten aus Israels Süden den Zusammenbruch einer zerrütteten Gesellschaft (man kann sich den Artikel auf Deutsch vorlesen lassen, das sieht so aus:)

Frankfurter Rundschau: Judith Butler im Interview (in dem sie u.a. bestätigt, was ich in meinem vorletzten Brief mit „Verstand. Nicht Verständnis“ zu vermitteln versuchte)


Ansonsten kann ich immer wieder nur empfehlen, unterschiedliche internationale Medien in Anspruch zu nehmen, um die sehr einseitige Berichterstattung vieler deutscher Medien durch andere Sichtweisen zu erweitern:

https://www.theguardian.com/world/gaza
https://www.bbc.com/news
https://www.france24.com/en/live
https://edition.cnn.com/
https://www.aljazeera.com/live
https://www.972mag.com
https://www.haaretz.com

Wer bis hierhin gelesen hat: DANKE! Wenn Du meine publizistische Arbeit — also die aufwändige und liebevolle Recherche und Herstellung dieses Newsletters, meiner ‚Briefe von Nirit‘ — unterstützen möchtest, dann werde Mitglied auf meiner Steady-Seite! Da gibt es LIEBE, LOVE und AMORE ab monatlich 3,50 €. Und leite gerne diesen Brief weiter. Danke.

Herzlichst,

Am Beginn eines Zivilisationsbruchs

Nein, es ist kein Völkermord. Wissenschaftlich betrachtet. Sagt Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, Massachusetts. Aber er fügt hinzu, es könnte einer werden, wenn wir nicht alles daran setzen, ihn zu verhindern. Denn alles deutet darauf hin, dass er beabsichtigt sein könnte — der Völkermord, das schlimmste aller Menschheitsverbrechen.

Israelische Angehörige fordern den Rücktritt Netanyahus. Sie demonstrieren im ganzen Land, nennen ihn Verräter und Mörder, schreien, das Blut ihrer Kinder klebe an seinen Händen. Die meisten fordern das Ende der Bombardierungen und dass die Befreiung der Geiseln endlich zur obersten Priorität erklärt wird.

Auch weltweit fordern Hunderttausende einen Waffenstillstand und Verhandlungen, um die Geiseln freizubekommen. Am Samstag, den 11.11.23 sind über 300.000 Menschen für einen Waffenstillstand und Freiheit für Palästinenser durch die Straßen Londons gezogen.

In Berlin haben am Freitag, den 10.11. — von jüdischen Künstlerinnen organisiert — rund 1.000 Menschen am Brandenburger Tor demonstriert und haben Rednerinnen und Rednern vier Stunden lang zugehört, unter ihnen Deborah Feldmann (hier ihre Rede bei Lanz), die die derzeitige Situation als Beginn eines Zivilisationsbruchs bezeichnet.

Am vergangenen Samstag, den 4.11., hat die große Veranstaltung des Vereins ‚Jüdische Stimme‘ gegen heftigen Widerstand stattgefunden (Video-Mitschnitt kommt demnächst). 300 Gäste kamen ins Berliner Kulturzentrum Oyoun, dem nun das Aus droht, weil es mit uns, den offenbar „falschen“ Jüdinnen und Juden aus Deutschland, zusammengearbeitet hat. Hier kannst Du die Rede des Vorstandsvorsitzenden der ‚Jüdischen Stimme‘ vom 4.11. lesen. Das Oyoun, die Leitung und das Team haben in der gesamten Vorbereitungszeit zu uns gestanden, trotz existentieller Bedrohung. Daher meine Bitte: Unterschreibe den Offenen Brief „Oyoun muss bleiben!“.

Wir hatten bei der Veranstaltung im Oyoun u.a. neun Bilder des Künstlers Mohammed Al-Hawajri aus Gaza gezeigt, die verleumderischerweise bereits auf der documenta15 dem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt waren. Den gesamten Bilderzyklus kannst Du hier ansehen; ich empfehle dringend, auch das Vor- und Nachwort des Künstlers zu lesen. Wir waren wochenlang im Unklaren darüber, ob Mohammed Al-Hawajri noch lebt oder wie es ihm in Gaza geht. Zwei Tage nach der Veranstaltung erreichte uns dann diese Nachricht aus Gaza:

Vielen Dank, meine lieben Freunde. Ich bin noch am Leben, allerdings wirklich leblos hier in extremer Angst und Schrecken.
Wie jeder weiß, ist Gaza seit Beginn dieses Krieges ohne Wasser, Strom, Medikamente, Lebensmittel oder irgendetwas anderes. Die Menschen hier sterben langsam. Es gibt sehr, sehr heftige Bombardierungen von überall, vom Land, vom Meer und vom Himmel. Es hört keinen Moment auf.
Alle haben Angst, Kinder, ältere Frauen, sogar Tiere. Es gibt keine Gnade. Nur Töten. Jede Minute kommt der Tod und Menschen werden in Stücke gerissen. 
Wir können uns nicht von den Toten verabschieden oder sie zum Abschied küssen, weil der Anblick so hässlich ist. Wir können sie nicht erkennen. Unsere geliebten Verstorbenen wurden zu kleinen, entstellten Stücken.
In Gaza ist die Wahrheit immer größer als das, was von den Medien oder sozialen Medien dargestellt wird.
Es gibt dutzende Massaker und Tonnen von Sprengstoff landen auf Gaza. Hier gibt es keinen sicheren Ort. Ganz Gaza ist zerstört und vernichtet.
Ich schreibe diesen Brief, während ich mit meinen Kindern und meiner Familie in einem Raum bin. Wir alle haben keine Hoffnung, diesem schrecklichen Krieg zu entkommen. Wir verbringen den Abend damit, nicht zu wissen, ob der Morgen kommen wird. Die Nacht ist sehr schrecklich, sie brennt vor Feuer und sie wird übertönt von den Geräuschen von Explosionen, die die Häuser erschüttern. Ich habe keine Erfahrung damit, in Erdbebengebieten zu leben, aber was wir jetzt spüren spiegelt meine Vorstellungen wider… Gaza steht vor einem verheerenden Erdbeben aufgrund der Intensität der Explosionen, die Städte, Stadtteile, Dörfer, Lager und Häuser zerstören. Alles in Gaza ist ein Ziel. Es gibt keinen Sinn für das Leben oder ein Leben in solchem ​​Terror und Hass.
Hier ist Gaza.


Hier die wichtigsten Berichte und Interviews, die ich im Laufe der vergangenen Woche gesammelt habe.

Deborah Feldmann, jüdisch-amerikanische Schriftstellerin aus Berlin („Unorthodox“) im Interview mit der Frankfurter Rundschau

Inside Gaza: ein 20-minütiger Video-Beitrag des Britischen Senders Chanel 4

Wegen der Reaktion seiner Organisation auf den Krieg in Gaza tritt der Direktors des New Yorker Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte Craig Mokhiber zurück. Sein Rücktrittsschreiben ist aufschlussreich und erschütternd.

Gideon Levy, Freund, Mitstreiter und Mit-Herausgeber der israelischen Tageszeitung Ha’aretz in der Tagesschau

ntv-Interview mit dem israelischen Historiker Tom Segev

Christian Meier und Quynh Tran schreiben in der FAZ über die Vertreibung von Palästinensern und Beduinen im Westjordanland im Schatten des Krieges


PALÄSTINENSISCHE STIMMEN im O-Ton

Es ist selten, doch manchmal möglich, palästinensische Stimmen in Deutschland im O-Ton zu hören. Am kommenden Dienstag, den 14.11.23 um 17 Uhr läuft live auf Radio LORA eine Sendung mit drei jungen Palästinensern aus München, in dem sie aussprechen, was sie bewegt und was sie auf die Straße treibt. Nur live am 14.11., 17 h über https://lora924.de/ .

Auch palästinensische Künstler wollen ihre Arbeiten zeigen. In Venedig ist dieses Anliegen abgewiesen worden. Bitte unterschreibe daher diese Petition: Forderung an die Biennale Venedig, palästinensische Künstler in die Biennale Arte 24 einzubeziehen


Und noch eine Ankündigung zum Schluss: Am kommenden Donnerstag, den 16. November geben meine Tochter Lili und ich ein Konzert mit Gespräch in Chemnitz — der Stadt, in der mein Vater geboren wurde und in der mein Großvater Julius ( –> JIDDISCHE WEIHNACHT) sein Wohnhaus mit Tuchgeschäft am Antonplatz 15 hatte, den es heute nicht mehr gibt (heute Flurstück Nr. 783). In Gedenken an den 9. November 1938 kommen wir als Nachfahrinnen der Familie Sommerfeld und im Rahmen der Kulturhauptstadt 2025 nach Chemnitz mit unserer Musik und unseren (Familien-)Geschichten.
Chemnitz 783 – WIR SIND DA.


Wenn Du meine publizistische Arbeit — also die Recherche und Herstellung dieses Newsletters, meiner ‚Briefe von Nirit‘ — unterstützen möchtest, dann werde Mitglied auf meiner Steady-Seite! Da gibt es LIEBE, LOVE und AMORE ab monatlich 3,50 €. Und leite gerne diesen Brief weiter. Danke.

Herzlichst,

Verstand. Nicht Verständnis.

Immer wieder werde ich gefragt, ob ich die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober denn nicht deutlicher verdammen könne. Habe ich das tatsächlich nicht absolut klar gemacht? Sollte irgendwer noch den geringsten Zweifel haben: Die Tötungen, die grausamen Morde an unschuldigen Menschen — jung, alt, behindert, mit und ohne Uniform, mit israelischen, thailändischen, deutschen, französischen und sonstigen Pässen — sind verheerend, abstoßend, völkerrechtswidrig, grausam und durch nichts zu rechtfertigen. Punkt.

Das entbindet mich aber nicht von der Verpflichtung als politisch denkender Mensch, als Publizistin, als Humanistin und Denkerin mit Herz und Hirn, über die Ursachen dieser Gewalt, über Kontexte, über Historie, über Lebensrealitäten nachzudenken, und zwar einzig zu dem Zweck, Lösungsansätze zu finden, damit das nie wieder geschehe. Weder das Morden und Töten von Israelis in unbeschreiblicher Zahl, noch das Zerbomben und Zerstören palästinensischen Lebens in mittlerweile fast zehnfacher unbeschreiblicher Zahl. Ich will verstehen. Und verstehen, also den Verstand einsetzen, ist nicht dasselbe wie Verständnis haben. Das muss ich ja wohl niemandem hier erklären.

Ich halte mich an Hannah Arendt, die von sich sagte, sie wolle „einfach nur verstehen“, auch wenn das bedeute, „dahin zu denken, wo es wehtut“. Was ich zu sagen habe, kannst Du in dem Podcast „Schantall und Scharia“ von Fabian Goldmann hören, der meine Tochter Lili und mich zu einem 90-minütigen Gespräch eingeladen hatte.


WESTBANK
Seit dem 7. Oktober ist die Gewalt gegen Palästinenser in der Westbank extrem gestiegen. Die Tagesschau berichtet (immerhin mal 3 Minuten lang) von der Gewalt national-religiöser Siedler, die palästinensische Bauern im besetzten Westjordanland bei der Olivenernte massiv bedohen. Die UN-Organisation OCHA berichtet gestern:
Im Westjordanland töteten israelische Streitkräfte sechs Palästinenser, ein israelischer Siedler tötete einen weiteren Palästinenser. Damit steigt die Zahl der palästinensischen Todesopfer durch israelische Streitkräfte oder Siedler seit dem 7. Oktober auf 121, darunter 33 Kinder, sowie ein von Palästinensern getöteter israelischer Soldat. Seit dem 7. Oktober wurden fast 1.000 Palästinenser im Westjordanland gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Darunter befinden sich mindestens 98 palästinensische Haushalte mit über 800 Personen, die aus 15 Hirten-/Beduinen-Gemeinschaften im Gebiet C vertrieben wurden, nachdem die Gewalt der Siedler und die Zugangsbeschränkungen zu ihren Häusern zugenommen hatten. Weitere 121 Palästinenser wurden vertrieben, nachdem ihre Häuser von den israelischen Behörden wegen fehlender israelischer Baugenehmigungen oder als Strafmaßnahme abgerissen worden waren. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem veröffentlicht einen dringenden Aufruf an die internationale Gemeinschaft, die Zwangsumsiedlungen im Westjordanland zu stoppen


ISRAEL
Aus Israel bekomme ich von Freunden und Familie bedrückende Nachrichten. Die Menschen, die bis vor drei Wochen noch auf Tel Avivs Straßen protestierten, sitzen frustriert und verängstigt zu Hause, meist vor dem Fernseher, der rund um die Uhr läuft. Immer wieder Raketenalarm — immerhin haben sie Schutzräume. Selbst die Regierungskritischsten unter ihnen fühlen sich emotional nicht in der Lage, sich zum jetzigen Zeitpunkt den größeren Kontext anzusehen oder gar über Lösungen nach dem Krieg nachzudenken. Zu tief sitzt der Schock des 7. Oktober, das als Verrat empfundene Verhalten (oder besser: Nicht-Verhalten) von Militär, Polizei und Sicherheitsapparat. Die Menschen fühlen sich von ihrer Führung im Stich gelassen wie noch nie, gleichzeitig eint sie der Schmerz über die vielen Toten und Verwundeten und obendrein die größte Sorge — die Frage nach dem Verbleib der Vermissten und der Befreiung der Geiseln. Meine Cousine meinte: „Meine einzige Hoffnung ist, dass nach dieser Finsternis irgendwann wieder ein Licht kommt.“

GAZA
Ein palästinensischer Freund schickt mir täglich Dutzende von Videos aus Gaza. Das Leid der Zivilisten ist unermesslich. Rund 300 Kinder sterben täglich unter dem Bombenhagel; tausende sind teils schwer verletzt, Operationen werden ohne Betäubungsmittel durchgeführt. Auf allen Videos wird geschrien, geweint, gerannt, geblutet, gestorben. Ich kann ihn nicht bitten, mir nichts mehr zu schicken, weil er die Hoffnung hat, dass seine Bilder etwas bewegen in Deutschland. „Show it to Germany, they must help us!“, schreibt er. Darum sage ihm nicht, dass ich nicht mehr alle Videos ansehe, und schäme mich, dass ich es nicht ertrage.


Der evangelische Pastor von Bethlehem, Dr. Mitri Raheb, im SPIEGEL-Interview.

Geschichte der Hamas in der taz mit vielen weiterführenden Links von Joseph Croitoru

Prof. Moshe Zuckermann über den historischen Kontext, den Horror, den die Hamas angestiftet hat und die politischen Hintergründe

Immer noch und immer tiefer erschüttert,

12.000 Tonnen Sprengstoff

Gaza:

– Derzeit wird die Zahl der Todesopfer nur geschätzt, allein in den letzten 24 Stunden wurden 704 Menschen getötet, darunter 305 Kinder.

  • Insgesamt wurden mehr als 6.000 Menschen getötet, davon mindestens 2.300 Kinder, mindestens 32% der Kinder sind Babys unter 2 Jahren.

– Seit dem 7. Oktober wurden 12.000 Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen, was der Sprengkraft der Atombombe entspricht, die 1945 auf Hiroshima in Japan abgeworfen wurde.

– Ärzte berichten über den Einsatz unkonventioneller Waffen bei der Behandlung von Verbrennungen 4. Grades, bei denen das Weichgewebe des Fleisches durchbrennt.

– Aufgrund der Treibstoffknappheit kündigte das Gesundheitsministerium vor einigen Stunden den völligen Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Gaza an.

– Mindestens 18.500 Verletzte.

– Schätzungsweise mehr als 1.500 Tote oder Lebende unter den Trümmern, darunter mindestens 870 Kinder. 

– Aufgrund des Treibstoffmangels ist der letzte verbliebene Bagger im Streifen außer Betrieb, was bedeutet, dass Menschen nur mit der Hand oder mit Schaufeln ausgegraben werden können.

– Mindestens 55 Familien (Mitglieder mehrerer Generationen) ausgerottet.

– Über 1,4 Millionen Vertriebene. 43% aller Häuser in Gaza wurden ganz oder teilweise zerstört.

Westjordanland:

– Mindestens 96 Tote, davon mindestens 27 Kinder.

– 1.500 Verletzte.

– Mindestens 5.000 Menschen wurden seit dem 7. Oktober gefangen (insgesamt über 10.200). In den ersten Tagen wurden weitere 4.000 Arbeiter aus Gaza gefangen.

– 13 Gemeinden wurden vertrieben, darunter 545 Menschen, die Hälfte davon Kinder.

Israel:

1.400 Tote, 5.400 Verletzte, darunter viele Kinder


Ich habe der Münchner Abendzeitung ein Interview gegeben, das am Freitag ganzseitig in der gedruckten Ausgabe erschien. Die Online-Version blieb ungekürzt, wurde aber nachträglich mit einer Notiz „Zur Person“ ergänzt.

Hier eine hervorragende, informative Stunde mit politischer Analyse zur Israel-Palästina-Situation mit Michael Lüders:


Unbedingt lesen, um Israelis zu verstehen: Prof. Jeff Halper in der NRZ

Daniel Bar-Tal, Prof. em. aus Tel Aviv, bittet um Verbreitung dieses Briefes

Amira Hass, einzige israelische Journalistin in Ramallah, spricht in Democracy Now mit Amy Goodman


Mein Gespräch mit Rihm M. Hamdan ist jetzt auf Youtube freigeschaltet.

Unsere Außenministerin meint, wir alle seien jetzt Israel, und Israel fordert heute den Rücktritt von UN-Generalsekretär Guterres.

Echt jetzt?

Wir alle

Liebe Freundis,
heute habe ich beschlossen, vorerst nicht mehr zu gendern. Ab sofort meine ich immer alle mit. Alle. Wirklich ALLE. Alle Menschen, die ich anspreche, und alle, über die ich spreche. Alle Personen aus Fleisch und Blut, alle Menschen mit einem Kopf und einem Herzen, das in jeder Brust rot und regelmäßig oder rauf und runter schlägt. Ich meine Menschen mit Herz und Hirn, mit einem Leib und zwei Beinen und zwei Armen. Und auch solche, deren Arme und Beine oder Knie weggeschossen wurden. Was immer ich schreibe oder sage — Freunde, Gäste, Zuschauer (manchmal erlaube ich mir auch eigene Wortkreationen wie Freundis, Gästs oder Zuschauis) — ich meine immer alle Menschen aller Hautfarben, Religionen, Nationalitäten, Zugehörigkeiten und Geschlechter, die ich anspreche. Wenn ich in Zukunft unterscheide, dann unterscheide ich zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, zwischen Gewalttätigen und Friedliebenden, zwischen freundlich und unfreundlich.

Ich möchte freundlich sein, auch in meiner Sprache, verbindlich und verbindend, nicht trennend. Nicht unterscheiden, sondern zusammenführen, einen. Nicht, dass ich die Notwendigkeit nicht begreifen würde, marginalisierten, unterdrückten, diskriminierten, ausgegrenzten Personen eine Stimme zu geben und deren Identitäten zu stärken, im Gegenteil. Aber mein Fokus liegt jetzt, wie ganz früher auch schon, auf uns allen. Vor allem auf denen, die systembedingt auf der untersten Sprosse der Leiter sind. In Gaza, wo wir gerade Augenzeugen der versuchten Ausrottung eines Volkes werden, trifft es alle, ganz gleich, ob es von Hamas / Männern unterdrückte Frauen sind, von religiösen Fanatikers verfolgte Schwule oder Lesben, von Rassisten gehasste Andersfarbige. Ich spreche Dich, Dich und Dich an: meinen schwulen Freund, meine lesbisch-bisexuelle Freundin, den muslimischen Nachbarn, die schwarze Trans-Frau und auch den alten weißen Mann.


EINLADUNG

Wir vom Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ planten für den 4. November ein Jubiläumsfest zu unserem 20-jährigen Bestehen. Wie Du Dir denken kannst, ist uns jetzt nicht nach feiern zumute. Aber wir wollen zusammenkommen, der Opfer dieses sinnlosen Krieges gedenken und uns gegenseitig stärken, um wirklich etwas für Gerechtigkeit und Frieden zu tun. Sei dabei! Hier unsere aktualisierte Einladung. Bitte komm nach Berlin und melde Dich an!

Das OYOUN, unser Veranstaltungsort in Berlin, hat massiven Druck seitens der Senatsverwaltung bekommen, weil wir Bilder eines Gazaner Künstlers zeigen, die Veranstaltung nicht absagen und das OYOUN nicht bereit war, den Vertrag mit uns zu kündigen. Hier ist das Statement des OYOUN dazu und die erste Reaktion der Berliner Zeitung.

Amira Hass, einzige in Ramallah lebende israelische Journalistin, in Ha’aretz: Deutschland, Du hast in Deiner Verantwortung seit langem versagt!

Michael Sfard, israelischer Menschenrechtsanwalt, in der Süddeutschen Zeitung: Ich bin völlig niedergeschlagen

Die höchst aufgeregte Rede des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, unbedingt sehenswert:

Wer den sanften Worten des ungarisch-kanadisch-jüdischen Traumatherapeuten Gabor Maté lauschen möchte, kann HIER ganz viel Kontext verstehen.

Der Südafrika-Korrespondent der Frankfurter Rundschau:
Schweigen ist nicht mehr okay

Diesen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Geiseln freizubekommen, habe ich mit vielen anderen israelischen und jüdischen Künstlers und Akademics unterschrieben: Elephant in the Room

Ein wesentlich breiter gefächertes Bild zur Situation in Israel/Gaza/Nahost findest Du auf BBC, Aljazeera, Democracy Now (besonders eindrucksvoll dieser Beitrag) und CNN. Außerdem auf den Websites von +972, B’tselem, OCHA OPT und auf dem Aljazeera Podcast.


Mehr, liebe Brief-Freundis, habe ich heute nicht zu sagen. Mit Rihm, einer jungen Frau mit palästinensischen Wurzeln, habe ich vor ein paar Tagen ein Gespräch geführt, das wir aufgezeichnet haben und das vorab all meinen STEADY-Unterstützern zur Verfügung steht. Nächste Woche wird es auf meinem Youtube-Kanal veröffentlicht. Oder Du kannst darauf sofort Zugriff haben, wenn auch Du meine Arbeit über STEADY unterstützt — ein echter Liebesdienst.

Danke dafür und auch fürs Lesen und Weiterverbreiten!
In Liebe, herzlich, wütend, traurig…

Kultur, Politik und gutes Leben