„Willst du mir nicht ‚Chag sameach‘, einen frohen Feiertag, wünschen?“, hörte ich meine Mutter am Telefon fragen vor acht Jahren, an einem schönen Tag im Mai. In Deutschland passiert es zuweilen, dass ich einen unserer vielen Feiertage übersehe; unser jüdischer Kalender richtet sich nach dem Zyklus des Mondes, nicht nach dem der Sonne, und daher fallen zum Beispiel Feiertage wie Channuka, was meist um Weihnachten herum stattfinden, mal auf Ende November und mal genau auf den 24. Dezember. Außerdem spielen jüdische Feiertage im öffentlichen deutschen Leben eigentlich keine Rolle, bisher jedenfalls, also war es leicht, sie hier im Alltag zu übersehen.
„Welchen Feiertag feiern wir denn diesmal?“, fragte ich mit einer Mischung aus Ironie und schlechtem Gewissen. In Wirklichkeit machte ich mich ein bisschen lustig über meine Mutter, denn sie bestand darauf, eine Agnostikerin und bestimmt nicht religiös zu sein, aber hier in Deutschland bedeuteten ihr unsere Feiertage viel. Daher zündete sie am Vorabend immer zwei Kerzen an, erwartete meinen Anruf mit ‚Chag sameach‘ und konnte mich eine unaufmerksame Tochter schelten, wenn die Feiertagswünsche ausblieben. Ich hatte also, wie ich es jeden Tag tat, an jenem Maitag angerufen, aber diesmal vergessen, ein ‚frohes Fest‘ zu wünschen.
„Yom ha’Atzma’ut“, antwortete meine Mutter, „unseren Unabhängigkeitstag.“
Es folgte eine peinliche Stille. Ich hatte mich zu jener Zeit viel mit den Ereignissen um die Staatsgründung Israels beschäftigt, mit den historischen Gegebenheiten, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufkeimen des Zionismus geführt hatten. Ich las über die Geschichte Palästinas seit der britischen Mandatsübernahme nach dem Ersten Weltkrieg und interessierte mich besonders für die späten 1930er Jahre, in denen mein Vater als 18-Jähriger nach Haifa gekommen war, um den Nazis zu entfliehen. Mein Interesse kreiste besonders um die Jahre 1947 bis ’49. In jener Zeit hatte die junge UNO die Teilung Palästinas beschlossen, woraufhin die Briten abzogen, Ben Gurion den Staat Israel ausrief und damit das Ende des bis dahin existierenden Palästina mit der Vertreibung einer Dreiviertel Million Menschen und der Zerstörung ihrer rund 500 Dörfer einläutete. Diese menschliche, völkerrechtliche, historische, zivilisatorische Katastrophe, deren Folgen sich bis heute auswirken, heißt in der Sprache der Palästinenser Nakba.
„Happy Nakba“, murmelte ich vor mich hin.
Ich konnte hören, wie meiner Mutter die Kinnlade herunterklappte.
„Was hast du gerade gesagt?“ Ihre Stimme war tonlos.
Ich versuchte, die Situation zu retten, ihr die andere Perspektive zu erklären, die sie — im Gegensatz zu den meisten Israelis — ohnehin kannte, doch sie war tief getroffen. Sie stammelte nur ein paar unzusammenhängende Phrasen in den Hörer — „Dein Vater hat sein Leben für diesen Staat…“ und „ohne diesen Staat gäbe es dich gar nicht“ und „… der schönste Tag in meiner Kindheit, danach nur Krieg“ und „für diesen Staat sind Unzählige gestorben“ — dann legte sie auf. Ich wusste, dass sie den Rest des Abends weinte.
Für Juden, die den Unabhängigkeitstag am 14. Mai 1948 persönlich erlebten und von jenem Moment an Israelis waren, ist der Gedanke an die Nakba in ihrem Widerspruch zu ihrem eigenen (Überlebens-)Glück unerträglich. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass es so wenigen Israelis bis heute gelingt, dieses Unrecht, das lange vor Mai 1948 begann und sich bis heute fortsetzt, überhaupt anzuerkennen. Auf der politischen Ebene wird seit 75 Jahren angestrebt und gefördert, die Nakba zu leugnen, sie zu vertuschen, sie in Nicht-Existenz zu bringen. Das geschieht in erster Linie durch (Un-)Bildungsprogramme (siehe Nurit Peled-Elhanan: Palästinenser in israelischen Schulbüchern), durch Gesetze, die z.B. das Hissen der palästinensischen Flagge oder auch das Wort ‚Nakba‘ in der Öffentlichkeit verbieten, durch Geschichts-Revisionisten, durch Medien und Politiker.
Umso eindrucksvoller ist für mich, dass bei der 17. Jahresfeier zum gemeinsamen Gedenken der Opfer beider Seiten über 15.000 Israelis und Palästinenser zusammenkamen und weltweit 300.000 Zuschauer der Zeremonie online beiwohnten. Zwar gibt es viele Angriffe auf solche gemeinsame Aktionen: Umstehende Israelis beschimpften die Anwesenden als Verräter, die mit dem Feind gemeinsame Sache machen und dadurch die eigenen Opfer verhöhnten; manche Palästinenser lehnen jegliche Zusammenarbeit mit Israelis ab, solange sie keine gleichen Rechte genießen, weil sie eine Anerkennung der Besatzungssituation durch ‚Normalisation‘ befürchten. Dennoch werden immer mehr Stimmen in der Zivilgesellschaft laut, die genau dies fordern: Eine gemeinsame Sache anzustreben, gleiche Rechte für alle zwischen Mittelmeer und Jordan zu fordern und damit endlich eine Basis für ein Ende der Gewaltspirale zu schaffen.
Annäherung durch Anerkennung
Um wirklich etwas verändern zu wollen, müssen wir Kontexte verstehen und historische Fakten von Mythen und Propaganda zu unterscheiden lernen. Hierfür habe ich den Workshop Fakten vs. Mythen entwickelt, den ich am kommenden Samstag, den 6. Mai von 10-14 Uhr in Brühl bei Köln anbiete. Alle Infos zu Anmeldung, Veranstaltungsort und Kosten im Link.
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Hier noch eine Auswahl lesenswerter Artikel zu 75 Jahre Israel und Nakba:
Peter Münch beschreibt in der SZ die Staatsgründung aus zwei persönlichen Perspektiven: Der israelische Musiker Mordechai Rechtmann hat die Ausrufung des Staates durch David Ben Gurion muslikalisch begleitet; der Palästinenser Sami Saadeh schrieb dem Staatsgründer Hilferufe, die verhallten.
Die Zeremonie zum Israeli-Palestinian Memorial Day wurde aufgezeichnet — ein bewegendes Zeugnis davon, wie gemeinsame Trauer, Anerkennung und Bewältigung ein Weg zu friedlicher Koexistenz sein kann.
Der britisch-jüdische Professor für internationale Beziehungen in Oxford Avi Shlaim ruft zur kritischen Betrachtung von Israels Geburtstag auf.
Gideon Levy mahnt in Haaretz, dass der Kampf um Demokratie mit dem Ende des Zionismus einhergeht.
Viele weitere spannende Artikel zu dem Thema finden sich im BIP-Blog und auf der Seite des Palästinakomitee Stuttgart.
Vielleicht sehen wir uns in Brühl? Ich würde mich freuen und grüße herzlichst,
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