Krieg
Seit ich mich heute Morgen hingesetzt habe, um Dir von all den schönen Ereignissen zu berichten, die derzeit um mich herum geschehen,
liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,
ist die Zahl der Toten in Israel von eins (7 Uhr) auf zweiundzwanzig gestiegen, Stand 12.20 Uhr. Dazu über 500 Verletzte. Meine Cousinen schreiben mir, dass viele Zivilisten im Süden Israels eingesperrt und als Geiseln gefangen gehalten werden, manche Geiseln sind angeblich nach Gaza verschleppt worden. Eine Gewalteskalation, wie Israel sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Die Leidtragenden sind wieder Zivilisten, so wie es in der Mehrzahl wieder Zivilisten in Gaza und wahrscheinlich auch im Westjordanland sein werden, die vermutlich den morgigen Tag nicht mehr erleben. Und wie viele werden in Israel heute noch sterben? Und morgen, übermorgen, nächste Woche, bis zum Jahresende? Wie viele tote Menschenkinder auf allen Seiten?
Heut morgen um sieben war mir klar: Das wird schlimmer als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten zwischen Mittelmeer und Jordan gesehen haben. Und das zeigt sich jetzt schon, von Minute zu Minute. Die Hamas, die die belagerte Enklave verwaltet, erklärte, ihre überraschende Operation sei eine Reaktion auf die Entweihung der Al-Aqsa-Moschee und die zunehmende Gewalt der Siedler. Sie werde Israel mit Feuer und Rache übersäen. Netanyahu hat Hamas den Krieg erklärt, „sie werden eine Antwort bekommen, wie sie sie noch nie erlebt haben“, sagte er gerade im israelischen Fernsehen. Schon sind Bomben in Gaza gefallen, Krankenhäuser melden von dort die ersten Toten und Verletzten.
Mich schmerzt jede und jeder Tote; der Schmerz der Verletzten durchschaudert mich, die Trauer um jeden Menschen und um alle zerschossenen Gliedmaßen und um jedes verwaiste Kind und um alle Hinterbliebenen und Verlassenen und Traumatisierten lässt mich innerlich zusammenbrechen, ein ums andere Mal. Oft spreche ich von der „Menschheitsfamilie“ , der wir doch alle angehören. Ich fasse es nicht: ein paar Milliarden, so unterschiedlich wir sind, und doch alle aus Fleisch und Blut, mit Herzen und Seelen und Geschichten und Schicksalen ausgestattet — wir alle rasen auf diesem schönen blauen Planeten im All herum und hätten eigentlich Besseres zu tun als unsere Unterschiedlichkeiten mit dem Schwert ausmerzen zu wollen. Vom Mond aus betrachtet ist das alles so absurd. Und doch stehen wir da als Individuen, bekämpfen und quälen uns, schlagen uns tot: In Israel und Palästina, in Bergkarabach, im Sudan, in der Ukraine… die Liste ließe sich fortsetzen.
Wird das je ein Ende haben?
Was seit heute Morgen in Israel/Palästina geschieht, ist nicht nur eine weitere Eskalation der Gewalt. Es ist der Beginn von sinnlosem, massenhaften Blutvergießen, das nicht so schnell enden wird und das sich möglicherweise in einen Flächenbrand ausbreitet (und ich bete darum, dass ich falsch liege!). Die Reservisten, die eben noch auf den wöchentlichen Kundgebungen ihren Dienst verweigert haben, eilen an die Waffen, um ihr Land zu verteidigen; unter solch einem Beschuss ist die Spaltung im Lande schnell überwunden. Die Interessen der rechtsradikalen israelischen Regierung werden leichter durchzusetzen sein und die Mobilisierung und Radikalisierung auf palästinensischer Seite wird voranschreiten.
Ich bin traurig, fassungslos, verzweifelt. Haben meine künstlerischen Friedensbemühungen irgend einen Sinn gehabt? Mir scheint, sie haben ebenso wenig zur Sicherheit und Befriedung beigetragen wie die militärischen Zäune, Überwachungskameras, Drohnen und Blockaden, die Israel zur Sicherung seiner Bevölkerung und Demokratie installiert hat. Wie konnte es sein, dass Dutzende Hamas-Kämpfer auf einmal, nach über 16 Jahren, die israelische Blockade von Gaza erfolgreich stürmen und israelische Städte „infiltrieren“, wie es heißt? Hat der israelische Geheimdienst, angeblich einer der besten der Welt, geschlafen?
Eigentlich wollte ich Dir erzählen, wie sehr ich mich über ein Konzert freue, das am 28. November in München mit Unterstützung des Kulturreferats der Stadt stattfindet. Ein ganz besonderes Konzert soll es werden, zusammen mit der syrischen Tänzerin Mouna Sabbagh, mit der ich vor 20 Jahren „SALAM SHALOM — Kennst Du den Weg ins Paradies?“ auf die Bühne gebracht habe. Wie weit sind wir heute, am 7. Oktober 2023, von Salam und Shalom entfernt, und um wie viel weiter noch unsere Schwestern und Brüder im Nahen Osten?
Mehr zum Konzert und allem anderen erzähle ich Dir im nächsten Brief.
Herzlichst,
Liebe Nirit,
dein Brief spricht mir aus der Seele. Es ist ein Jammer, dass wir nicht aus der Geschichte gelernt haben, aus der klar hervor geht, dass Kriege nur Leid verursachen. Ein Leben ist so kurz und ist oft mit anderen Nöten behaftet: warum müssen wir selbst unsere Tage auf dieser Erde vergiften aus Gier, Machthunger, Fanatismus??? Ich mache mich auf die Suche nach einem Funken Hoffnung.
Shalom, Dorothea