Seit vielen, vielen Jahren trete ich an jedem 9. November mit meinem ORCHESTER SHLOMO GEISTREICH und unserem Programm Unter Deinen Weissen Sternen irgendwo in Deutschland auf. Es ist ein Programm mit Texten und Liedern zur sogenannten „Reichskristallnacht“, die heute „Pogromnacht“ genannt wird: Jene Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der von München ausgehend Synagogen in ganz Deutschland brannten, Geschäfte zerstört und geplündert, jüdische Menschen verfolgt, verprügelt, verhaftet, gequält, getötet oder in den Selbstmord gejagt wurden.
Wer gedenkt, muss wissen, was sich zugetragen hat, um daran erinnern zu können und um zu mahnen und aufzustehen, wenn Ähnliches sich wieder anzunähern versucht. Eine ausgezeichnete Rede hierzu hat Dr. Andreas Heusler, Historiker vom Münchner Stadtarchiv, gestern gehalten; hier kannst Du die Videoaufzeichnung davon sehen.
Das Wort „Reichskristallnacht“ finde ich im Übrigen zu Unrecht diskreditiert. Das Argument, es verharmlose das Pogrom, das in jener Nacht stattgefunden hat, empfinde ich nicht so, im Gegenteil. Das Wort löst bei mir viele Empfindungen und Bilder aus — zugegebenermaßen nicht sehr angenehme: zerbrochenes Glas, zersplittertes Kristall, das ganze Straßenzüge überall in Deutschland innerhalb weniger Stunden überzieht… Kristallvasen, Geschirr aus wertvollem Kristall, glitzernde Kristallleuchter, Symbole von Wohlstand, durchaus auch von Bürgerlichkeit, Gemütlichkeit und Glanz… alles in einer einzigen Nacht zu Kristallsplittern zerstört. Scharfkantige, gefährliche Kristallsplitter, die sich auf deutschen Straßen, in deutschen Geschäften und Wohnungen jüdischer Mitmenschen mit Glassplittern zerbrochener Fensterscheiben mischen… eine Nacht voller zerborstener Kristalle, an denen man sich schneidet, verletzt, blutet… Blut und Kristall in einem „Reich“, das sich so nicht nennen dürfte. Das alles drückt das Wort „Reichskristallnacht“ für mich aus; es bringt mir das Grauen dieser Nacht und ihrer Folgen sinnlich näher. Da finde ich „Pogromnacht“ wesentlich trockener, sachlicher, allgemeiner. Aber vielleicht ist das ja so gewollt.
Dieses Jahr jedenfalls durfte ich auf keiner Bühne mein Gedenken in Liedern und Worten zum Ausdruck bringen. Wir Kreativen sind zusammen mit Hunderttausenden aus unserer Branche — seien es die Frauen und Männer von Technik, Ton, Licht, Bühnenbau, Organisation, Veranstaltung, Catering und vielen anderen Bereichen — die sofortigen und unmittelbaren Verlierer dieser Krise — Ausgang ungewiss. Immerhin darf ich darüber mal öffentlich sprechen: Morgen, Mittwoch Abend, 20.15 Uhr im Bayerischen Fernsehen in der Live-Sendung „Jetzt red i“; die Sendung heißt:
Wenn der Vorhang fällt — Stirbt die Kultur in der Corona-Krise?
Unter diesem Link kannst Du jetzt schon Fragen oder Anregungen direkt an die Redaktion stellen, entweder im Kontaktformular am Ende des Links oder direkt an [email protected]. Und die Sendung natürlich auch zu einem späteren Zeitpunkt online ansehen.
Ich freue mich über rege Beteiligung vor allem meiner schauspielenden, musizierenden und aller anderen kreativen Mitstreiterinnen! Lasst uns mal solidarisch zusammenstehen und zeigen, wie „systemrelevant“ wir sind!
Herzlichst,
Ein Gedanke zu „Künstlerinnen: Redet mit!“
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