Nicht schreien!

Sie sollen sich endlich mal benehmen. Sie sollen nicht so laut sein auf den Demos, sie sollen keine Fahnen schwenken und keine fragwürdigen Symbole tragen. Sie sollen nicht so herumbrüllen und nicht so kreischen, vor allem nicht die Frauen, die wenigen, wenn sie denn schon auf diesen unangenehmen Protestcamps auftauchen, einige von ihnen auch noch im Kopftuch verhüllt. Sie sollen sich nicht hysterisch auf die Brust schlagen und immer wieder ‚Allah’hu akbar‘ grölen auf diesen unerträglichen Videos aus Gaza, die wir schon nicht mehr sehen können. Sie sollen ihre getöteten Kinder nicht Märtyrer nennen. Sie sollen nicht die verbrannte Erde küssen, als wäre es nur ihre Heimat. Sie sollen nicht Deutschland oder die EU oder die USA für ihre Misere verantwortlich machen, diese Palästinenser; sie sollen lieber darüber nachdenken, wen sie sich da als Regierung ausgesucht haben, wen sie womöglich unterstützt haben all die Jahre… denn wir wissen ja: Jedes Volk hat die Führer, die es verdient.

Und wir, die wir die Palästinenser (angeblich) in ihrem Kampf um Menschenrechte, um Selbstbestimmung oder zumindest um ihre Würde unterstützen, wir sollten weder brüllen noch schreien noch kreischen und schon gar nicht unsere Stimme erheben gegen irgendwas, das mit dem Staate Israel zu tun hat. Berechtigte Kritik? Ja, klar! Jederzeit und immer, wir sind doch eine freie Demokratie! Aber wir sollten nicht (oder jedenfalls nicht laut und deutlich) dagegen protestieren, wenn von der Selbstverteidigung Israels schon lange nicht mehr die Rede sein kann bei der Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Wir sollten israelische Rechtsextreme nicht Faschisten nennen, auch wenn sie selbst davon sprechen, stolz darauf zu sein; vor allem sollten wir das nicht in aufgebrachtem Ton und sich überschlagender Stimme tun. Von uns sollte man doch erwarten können — anders als von diesen Arabern, die sich Palästinenser nennen — dass wir zivilisiert miteinander umgehen, dass wir kultiviert und bedacht (wie eben werteorientierte Westler sind) über diese Dinge diskutieren, und zwar bitte ausgewogen. Von uns wird man doch erwarten dürfen, dass wir wirklich mal besser nachdenken, wo wir ein Herzchen oder einen ‚Daumen hoch‘ setzen in unserer meist stummen Wut und Verzweiflung. Und wehe, wir vergessen einmal die Geiseln zu erwähnen, die zweifellos unerträglich leiden — allein dies wäre schon ein Anzeichen von verstecktem Antisemitismus, Israel- oder gar jüdischem Selbsthass.


Ich kann nur sagen: Worüber wir hierzulande reden, ist angesichts der menschlichen Katastrophen und des Blutvergießens unerträglich: 1.200 getötete Zivilisten in Israel, rund 45.000 getötete Palästinenser in Gaza, über 350 getötete israelische Soldaten in Gaza und damit tausende israelische Familien traumatisiert; in Gaza sind 80% aller Schulen zerstört, 100% aller Universitäten, kein Krankenhaus mehr intakt, Menschen verhungern, weit über 100.000 Verletzte, für die es kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt, die gesamte Bevölkerung vertrieben und traumatisiert; in der Westbank brandschatzen jüdische Siedler, Hauszerstörungen, Tötungen, Verhaftungen, Folter wie in Sde Teiman finden täglich statt.

Und in Deutschland hat eine Uni-Präsidentin einen fragwürdigen Post geliked. Worum, bitte, geht es hier eigentlich?!?

Daher meine Bitte: Unterschreibe den Brief zur Unterstützung der Berliner TU-Präsidentin Geraldine Rauch! Hinter diesem Link findest Du alle Informationen und die Liste der Unterzeichner. Und bitte gehe heute wählen! Es gibt Parteien, die sich u.a. für die Rechte von Palästinensern einsetzen, für einen schnellen Waffenstillstand (nicht nur in Nahost, sondern auch in der Ukraine und anderswo in der Welt), für Frieden statt für Krieg, für Gerechtigkeit statt Spaltung, für den Abbau von Armut und mehr Gleichheit unter den Menschen statt Ausgrenzung und Wohlstand für Wenige. Solltest Du Dich für völlig unpolitisch halten oder verunsichert sein, dann höre auf Dein Herz und wähle in Deinem täglichen Leben einfach Freundlichkeit statt Streit, Freude statt Schmerz, Schwester- und Brüderlichkeit statt Einzelkämpfertum. Das wird uns allen in dieser schwierigen Zeit helfen. Auch politisch.

Danke und herzlichst,


Kommentar von Stefan Detjen: „Deutschland muss seine Nahostpolitik korrigieren“
„Leuchtfeuer der Demokratie“: Statement von Professoren bei der Bundespressekonferenz am 21. Mai 2024
„Von Gaza nach Hamburg“: Vortrag von Prof. Norman Paech, Völkerrechter (HH) und Dr. Wesam Amer (Gaza)

UN-Organisation OCHAoPT zur gegenwärtigen Lage in der Westbank

Bilder sagen mehr als tausend Worte…
Al Mezan Center for Human Rights
Visualizing Palestine
B’tselem

Ein Gedanke zu „Nicht schreien!“

  1. Liebe Nirit,
    über den ersten Teil deines Posts bin ich positiv überrascht. Ich habe erst letzte Woche mit Tsvi in Israel telefoniert. Er hat den Holocaust überlebt, macht sich aber Sorgen um seine Enkel und Urenkel. Neben Terror gefährdet die Netanjahu Regierung die Existenz und die Zukunft Israel. Die Linke darf es dann richten, um später als Vaterlandsverräter beschimpft zu werden. Der Schaden für Israel und für Juden auf der ganzen Welt ist enorm. Warum ist Israels Rechte so geschichtsvergessen und politisch unklug? Stimmt, die lesen nur den Talmud, nicht aber Geschichtsbücher. Wie wäre es mit Josephus Flavius, der jüdische Krieg? Man könnte Parallelen entdecken.

    Zur TU Präsidentin: Wer sich dämlich verhält, soll die Konsequenzen tragen. Meine Solidarität hat die Präsidentin nicht, höchstens meinen Spott.

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