Heute vor 42 Jahren ist mein Vater gestorben. In jener Nacht von Dienstag auf Mittwoch im Jahre 1980 tat er seinen letzten Atemzug in unserer kleinen Wohnung in einem Münchner Vorort. Ich versuchte ihn noch zu beatmen, wie ich es im Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein gelernt hatte, aber es war vergebens. Meine Mutter rief den Notarzt erst, als sie sicher sein konnte, dass sie ihn nicht mehr in ein deutsches Krankenhaus bringen würden, dem sie nicht vertraute. Er war nicht am Krebs gestorben, sondern an einer fahrlässig falschen Behandlung unseres damaligen Hausarztes. Jahre später begriff ich, dass der Arzt damals schon ein Alkoholproblem hatte. Mir als Jugendliche kam er einfach nur besonders lässig vor. Mittags bekam ich mein Jahreszeugnis der 12. Klasse — warum ich damals zur Schule fuhr, weiß ich nicht mehr, ich kann mich nur daran erinnern, dass ich vor dem Lehrerzimmer zusammenbrach und dass es mir ganz wichtig war, das Zeugnis zu bekommen und mit diesem unglücklichen Schuljahr abzuschließen.
Der frühe Tod meines über alles geliebten Vaters Rolf hat mich so geprägt wie wenige andere Ereignisse meines Lebens. Er hinterließ nicht nur meine damals 43-jährige Mutter und mich — zwei (aus meiner heutigen Sicht junge) israelische Frauen in Oberbayern, sondern auch eine riesige Lücke mit zahllosen unbeantworteten Fragen. 1919 in Chemnitz als Sohn vermögender jüdischer Eltern geboren, wurde er 1935, im Todesjahr seiner Mutter Margarete, als „Saujude“ vom Gymnasium geworfen, weil er es gewagt hatte, im 100-Meter-Lauf schneller zu sein als sein Klassenkamerad, ein strammer Hitlerjunge. Rolfs Vater — mein Großvater Julius, dem ich mein Winterprogramm Jiddische Weihnacht gewidmet habe — schickte ihn in ein Internat in die Nähe von Genf, wo er bis zu seiner Flucht nach Palästina 1937 noch eine erstaunlich glückliche Jugend verbrachte, was sicherlich dem außergewöhnlichen Konzept der Internatsschule Ecole d’Humanité zu verdanken war. Der universelle Humanismus, der meinem Vater in den zwei Schuljahren in dem kleinen Schweizer Paradies inmitten des immer höllendüster werdenden Mitteleuropa von 1935-37 beigebracht wurde, sollte sein ganzes Leben und später auch meine Erziehung prägen.
Um das Leben meines Vaters von seiner Ankunft in Haifa, Palästina, im Sommer 1937 — er 18, meine Mutter gerade in Jerusalem geboren — bis zu seiner ‚Sesshaftwerdung‘ in Eilat am Roten Meer Mitte der 1950er Jahre (immerhin hielt er es dort rund zehn Jahre aus), wo meine Eltern sich später kennenlernten und wo ich Anfang der 60er geboren wurde, ranken sich einige Geschichten. Für mein Buch habe ich dazu recherchiert, wo ich nur konnte: Im Archiv der Palmach in Tel Aviv (Rolf gehörte jahrelang der Kampfeinheit der Untergrundorganisation Hagana an), im Hagana-Museum, in Familienalben, bei Freunden und Verwandten. Und ich habe in meinem Gedächtnis gekramt und habe in langen, stillen Stunden mit mir selbst eine Art Gedächtnisprotokoll niedergeschrieben — Gespräche, die mein Vater und ich in tiefnächtlichen oder frühmorgendlichen intimen Stunden führten, wenn meine Mutter und die Welt um uns herum schon oder noch schlief und er mir einige seiner Geheimnisse anvertraute. Leider weiß ich dennoch viel zu wenig über den Mann, der mein Vater war, dessen Familie von den Nazis verjagt oder ermordet wurde, der in seinen ersten Jahren in Haifa nur weg wollte aus „diesem Orient, aus dem sie versuchen, ein Europa zu machen, doch es wird ihnen nie gelingen.“; so schrieb er es 1938 in einem Brief an seine Schweizer Schule. Und der 1970 in einem zweiten Versuch, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, in der oberbayrischen Kleinstadt Ebersberg bei München hängenblieb und somit die Zukunft unserer kleinen Familie besiegelte. Warum auch immer.
In wenigen Wochen würde mein Vater 103 Jahre alt; er starb mit 60, genau in dem Alter, in dem ich jetzt bin. Seit einigen Jahren bin ich mit seinem Tod etwas mehr versöhnt, weil ich mir denke, dass er jetzt vermutlich ohnehin nicht mehr leben würde. Gleichzeitig ist er in letzter Zeit für mich präsenter denn je. Das hat zum einen mit meinem Buch zu tun, in dem es eine Figur gibt, die charakterlich an ihn angelehnt ist, zum anderen mit den aktuellen Ereignissen in Deutschland, die wiederum direkt mit den Ereignissen in Israel/Palästina zu tun haben. Ich spreche natürlich von der Documenta fifteen und dem unfassbar aufgeblähten „Skandal“, der mit dem wahren, dem real existierenden, dem lebensgefährlichen und dem selten benannten und verfolgten Antisemitismus so viel zu tun hat wie Schweizer Käse mit der humanistischen Bildung meines Vaters. Wenn Du weißt, was ich meine.
Aus den zahllosen Beiträgen der vergangenen Wochen zu diesem Thema habe ich die herausgesucht, die mir am wichtigsten und wirklich lesenswert erscheinen. Du findest sie kurz kuratiert am Ende dieses Briefes. Mein Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er mitbekommen würde, was derzeit in Deutschland unter „Antisemitismus“ durchgeht. Bei einigen Aussagen mit dem dazugehörigen Betroffenheits-Hundeblick mancher ‚Experten‘ kann ich mich nur fremdschämen. Gerne würde ich diese Leute fragen, was sie gegen Antisemitismus und andere Formen von Rassismus bei der Polizei, bei der Bundeswehr, in der AfD, im Netz, in gewissen Vereinen und Institutionen unternehmen. Gerne würde ich ihnen ein Gespräch mit dem ehemaligen Knesset-Sprecher Avraham Burg vermitteln, der in seinem Artikel (s.u.) bestens erklärt, wem wir bei dieser verfälschten Debatte in Wirklichkeit auf den Leim gehen. Mein Vater würde ihm sicherlich beipflichten.
Ob mein Vater im Himmel ist und mir von Wolke sieben aus zusieht, wie er manchmal lachend prophezeite, oder ob er, wie er immer zu sagen pflegte, die Radieschen von unten anschiebt, oder ob er ganz woanders oder nirgendwo oder überhaupt nicht mehr ist, das weiß ich nicht und habe auch nicht vor, mich für irgend eine Variante zu entscheiden. In meinen Gedanken und in meinem Herzen begleitet er mich ständig, täglich — auf immer und ewig, nehme ich an. Ich danke ihm für alles, was er mir war; ganz besonders für seinen humanistischen Geist, der mich lehrte, keinen Unterschied zu machen in der Bewertung aller Menschen, sie gleich-wertig zu achten und zu behandeln und ihre Unterschiedlichkeiten zu ehren, zu bestaunen und zu schätzen. So geht für mich Humanismus. Ich wünschte, das könnte ich genauso weitergeben. Was mein Vater zur derzeitigen „Antisemitismus“-Debatte in Deutschland sagen würde, kann ich nur erahnen. Und froh sein, dass er diesen Wahnsinn inklusive der Anschuldigungen gegen seine Tochter* nicht leibhaftig erleben muss.
Eine anregende Lektüre und alles Gute wünscht
herzlichst,
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PPS: Ab Herbst geht es für mich wieder mit Live-Veranstaltungen los. Ganz besonders freue ich mich auf ein Gespräch mit Prof. Norman Paech und Prof. Horst Teltschik am Sonntag, den 25. September um 17 Uhr, das ich im Rahmen der Ulmer Friedenswochen moderieren werde und in dem wir uns über kalte und heiße Kriege und vor allem deren Vermeidung und Befriedung unterhalten werden. Mehr dazu demnächst.
Hier meine Auswahl zur Documenta 15 und darüber hinaus:
Eva Menasse ist wütend und fragt zurecht, was gefährlicher ist: alte antisemitische Karikaturen aus Indonesien oder Antisemiten, die mit Maschinenpistolen in Synagogen eindringen? Ihr Gastbeitrag im Spiegel:
Meint Ihr das wirklich ernst? (29. Juni 22)
Norman Paech sinniert, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der täglichen Gewalt und Apartheid der israelischen Besatzungspolitik und dem steigenden Antisemitismus nicht nur in Deutschland.
Räumt die Documenta ab! (2. Juli 22)
Joseph Croitoru beharrt darauf, die Dinge im Kontexte zu verstehen. Darum erklärt er in der Münchner Abendzeitung das Wimmelbild, das auf der Documenta anfangs (oder war es die zweite Welle der Empörung, oder die dritte?!) im Fokus der Aufregung stand, sowie in der Berliner Zeitung weitere Kunstwerke:
Das Chaos fair deuten (AZ, 16. Juli 22)
Warum diese Bilder nicht antisemitisch sind (BZ, 29. Juli 22)
Werner Ruf und zwei weitere Wissenschaftler rufen in diesem Offenen Brief den Documenta-Aufsichtsrat, die Bundesregierung und die Medien zu einer Korrektur ihres Verhaltens auf:
Ist die documenta noch zu retten? (27. Juli 22)
Avraham Burg, ehemals Knesset-Sprecher und Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation meint: „Wenn man Muslimen schadet, schadet man mir. (…) Das ist das Gesicht des wahren Judentums.“:
Deutschland verleiht der israelischen Besatzung einen koscheren Stempel
Für noch mehr Kontext, noch mehr Hintergrund, ein kurzer Beitrag im Deutschlandfunk: Großbritannien verspricht Juden wie Arabern die Erfüllung ihrer nationalen Ambitionen – und verfolgt doch eigene Interessen.
Vor 100 Jahren: Großbritannien erhält das Völkerbundmandat über Palästina (5 Min.) (24. Juli 22)
Und heute? Laut des UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten in den Occupied Palestinian Territories (oPt) OCHAoPt sind seit Jahresbeginn 29 Palästinenser getötet worden, darunter 6 Kinder; 273 wurden in diesem Zeitraum in der Westbank verletzt, darunter 24 Kinder. Weitere Infos über Hauszerstörungen, Verhaftungen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Hausdurchsuchungen etc. können auf der OCHA-Seite abgerufen werden. Darüber sollten wir sprechen; das sollten wir ändern, anstatt uns über Schweineschnauzen auf indonesischen Wimmelbildern zu echauffieren.
* Hier nochmal zwei Artikel, in denen es u.a. auch um meine Person in dieser Schlammschlacht geht:
Itay Mashiach (Haaretz, Dez. 2020): Hexenjagd gegen Israelkritiker
Brian Eno (The Guardian, Feb. 2021): Artists like me are being censored in Germany
Und in diesem Zusammenhang der Offene Brief von Eva Menasse an Felix Klein (Berliner Zeitung, März 2021)
Zuletzt noch als Nachtrag zu meinem letzten Brief ‚Der Schmerz der Anderen‘ ein Kommentar von Charlotte Wiedemann in der taz:
Nakba und deutsche (Un-)Schuld
Und ganz aktuell ihr Beitrag im Online-Magazin Geschichte der Gegenwart, in dem sie u.a. afrikanische Philosophen zitiert:
“ (…) Alle Erinnerungen können geteilt werden, denn in jedem Unglück und jeder Katastrophe unserer gemeinsamen Geschichte ist die Gestalt eines jeden von uns verfinstert worden. Alle Erinnerungen der Erde, ohne jegliche Diskriminierung, sind für den Aufbau einer gemeinsamen Welt unerlässlich.“
Afrikanische Perspektiven auf Holocaust und Erinnerung. Ein Essay über Weltgedächtnis, Prestige und Opferhierarchien
Ein sehr bewegender und wunderbarer Beitrag!
Herzliche Grüße