Israelis verstehen

Sie essen Gras in Gaza. Wissen die Menschen das nicht in Tel Aviv?

Sie, die überlebt haben, sind aus dem Norden geflohen, wenn sie noch gehen konnten. Sie sind weiter nach Süden gezogen, wenn sie noch Beine und Arme hatten, und haben diejenigen getragen, deren Gliedmaßen oft ohne Narkose und Schmerzmittel amputiert wurden. Ihnen wurde eine safe zone versprochen, aber in Wahrheit sind sie nirgendwo sicher. Ihnen wurden auch andere Versprechungen gemacht: dass kein Stein auf dem anderen bliebe, dass man sie ausmerzen würde, vernichten und vertreiben wie Tiere, ihnen Treibstoff für ihre Generatoren entziehen, ihnen den Zugang zu Lebensmittel und Wasser verweigern. Diese Versprechen werden gehalten. 

Das Internet ist voll von Berichten und Videos von nicht enden wollenden schweren Bombenangriffen auf Gaza und ihre verheerenden Folgen. Seit dem 7. Oktober sind dort über 36.000 Menschen getötet worden, wenn man die rund 8.000 dazu zählt, die als „vermisst“ gelten und die vermutlich verletzt unter Schutt auf ihren langsamen Tod warten oder mittlerweile verwesen. Dazu kommen an die 70.000 Verletzte, denen von einstmals 36 Krankenhäusern keines mehr voll funktionsfähig zur Verfügung steht. Wer nicht tot oder verwundet ist, hat sein Zuhause, Freunde und Verwandte verloren, leidet Hunger und ist auf der Flucht innerhalb des eigenen Gefängnisses. Das betrifft etwa 90% aller Menschen in Gaza. Fast zwei Millionen Menschen. Über die Hälfte von ihnen Kinder. In Gaza droht die weltweit größte Hungerkatastrophe, bereits jetzt sind neun von zehn Kindern unterernährt. Krankheiten grassieren, vor Epidemien wird gewarnt. 

Am 10. Februar 2024 hat Benjamin Netanyahu die Evakuierung von 1,4 Millionen Menschen aus Rafah, dem südlichen Gazastreifen, angeordnet. Evakuierung bedeutet: in die Wüste schicken. Auf die ägyptische Sinai-Halbinsel. Anderthalb Millionen Menschen, die innerhalb des Gazastreifens bereits mehrfach vertrieben wurden, nachdem ihre Vorfahren 1947/48 bereits als Vertriebene aus den umliegenden Dörfern dorthin deportiert wurden. 

Die Mehrheit der Weltgemeinschaft ist darüber entsetzt. Das zeigt eine Abstimmung in den Vereinten Nationen zu einem sofortigen Waffenstillstand, bei der 153 Länder dafür stimmten, 10 dagegen. 23 Länder enthielten sich, darunter auch Deutschland. In Deutschland geht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sicher nicht konform mit der Meinung der deutschen (= israelischen) Regierung und der allermeisten Medien, die immer noch vom „Recht Israels auf Selbstverteidigung“ schwadronieren. Aber was denken Israelis? Steht wirklich die Mehrheit der jüdischen Israelis hinter dem Regierungskurs des „Krieg bis zum totalen Sieg“?

Die allermeisten Israelis wissen nicht, was in Gaza derzeit wirklich passiert. Klingt nicht plausibel, ist aber so. Die allermeisten Israelis sehen den ganzen Tag fern oder lesen, wie viele andere Leute auch, die Schlagzeilen in den Sozialen Medien, so wie der Algorithmus es ihnen vorgibt. Hier wie dort erfahren sie, dass ganz Gaza bevölkert ist von Terroristen; manche von ihnen würden Zivilisten, Krankenhäuser und UN-Einrichtungen für ihre terroristischen Zwecke missbrauchen. Ihr einziger Lebenszweck sei es, Juden, vor allem israelische, zu vernichten. Diese Sichtweise basiert auf jahrzehntelang gelieferten Informationen, die Israelis durch Medien und Regierung, aber auch in Schulen und bei den meisten sozialen Interaktionen angeboten werden. Dabei lernen sie, dass Araber (von Palästinensern ist eigentlich nie die Rede) Juden hassen, wir wiederum sie hassen und dass sich daran niemals etwas ändern werde. Sie lernen, dass Araber ungebildet seien, immer nur Hass und Rache im Schilde führen, keine eigene Kultur kennen und nicht mal ihre Kinder so sehr lieben, wie sie uns hassen. Das hatte Golda Meir uns schon vor über 50 Jahren gelehrt, das führte sie als Begründung dafür an, dass es niemals Frieden mit den Arabern geben werde, solange sie uns mehr hassen als ihre Kinder zu lieben. 

Der Schock des 7. Oktober hat sämtliche Traumata der jüdischen Israelis aktiviert. Zweifels ohne steckt in uns allen die generationenübergreifende Erinnerung an Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung. Zweifels ohne gab es darüberhinaus in den vergangenen 75 Jahren seit Staatsgründung für jüdische Israelis dramatische und traumatische Erlebnisse von Gewalt, sei es bei den zahllosen Kriegen und Militäreinsätzen oder bei Terroranschlägen auf zivile Ziele. Dabei haben alle israelischen Regierungen immer dafür gesorgt, dass zwei Grundsätze im israelischen Bewusstsein manifestiert wurden:
1. Wir sind immer die Opfer, die angegriffen werden. 
2. Es gibt weder einen historischen Kontext noch jedwede Rechtfertigung für Gewaltausbrüche; sie werden ausschließlich aus Hass gegen uns entfacht.

Die grausamen, in diesem Ausmaß nie da gewesenen Gewalttaten der Hamaskämpfer am 7. Oktober haben diese Grundannahmen bestätigt. Israelis haben den realen Schmerz, den ganz Israel kollektiv erfasst hat, auch individuell wirklich empfunden. Ohne Ausnahme kennt jede und jeder Israeli jemanden, der direkt von den Angriffen am 7. Oktober betroffen war. Sämtliche regierungsnahen Medien — und bis auf die Tageszeitung Haaretz sind sämtliche Medien regierungsnah — haben ununterbrochen dafür gesorgt, dass grausame Bilder des Horrors israelische Wohnzimmer, Tablets und Handys erreichten. Dazu gehörten auch Nachrichten von enthaupteten Babys, die im Nachhinein zweifelsfrei als Falschmeldungen identifiziert wurden, aber bis heute in den Köpfen der Menschen stecken. Diese Nachrichten- und Bilderflut blieb nicht ohne Effekt. Selbst offene, liberale, progressive Israelis sind bis heute, vier Monate danach, nicht in der Lage, die Situation mit etwas Abstand zu betrachten. Kaum jemand ist bereit, in anderen Medien, sprich dem Internet, nach Informationen zu suchen, die ein anderes Bild von Gaza erzeugen könnten als das einer dunklen kollektiven Terrorzelle. 

Unschuldige Kinder? Schwangere Frauen und Fehlgeburten? Verhungernde Babys? Verletzte ohne medizinische Versorgung? Verzweifelte Menschen in überfüllten Zeltlagern? Diese Videos (wie hier oder hier oder hier) sehen Israelis sich nicht an, das alles gibt es in ihrem kollektiven Bewusstsein nicht. Wie soll man auch an so etwas glauben, wenn man vom Kindergarten an lernt, dass Palästinenser uns all das neiden, was wir in dieser Wüste erschaffen haben und uns daher und ohne jeden vernünftigen Grund vernichten wollen und nur unsere tapferen Soldaten mit Gewehren und Panzern unser Leben verteidigen können? Und dass alle um uns herum Feinde sind, die uns ins Meer werfen wollen und dass es niemanden auf der anderen Seite gibt, mit dem man reden kann? Wer von Opfern auf der anderen Seite spricht, ist ein Verräter, so wie der Lehrer Meir Baruchin, der seinen Job verlor, inhaftiert wurde und Morddrohungen bekommt. 

Unterdessen blockiert eine Menschenmenge religiös-nationaler Israelis die Einfahrt nach Gaza, um Hilfsgüter nicht durchkommen zu lassen. Diese Frau hier spricht vielen Israelis, auch weniger radikalen, aus der Seele, wenn sie euphorisch von der gelungenen Blockade der Lastwagen erzählt, die mit Lebensmitteln beladen nun nicht nach Gaza rollen.

Nur wenige Israelis wagen es, ihre Stimme für einen Waffenstillstand oder für Verhandlungen mit der Hamas zu erheben. Interessanterweise sind es am ehesten noch Angehörige der Geiseln, die vehement dafür protestieren, die Prioritäten neu zu setzen, also auch zu verhandeln. Denn die Freilassung der Geiseln scheint nicht oberste Priorität der Streitkräfte und Netanyahus zu sein. Der „totale Sieg“, den er beschwört, und die komplette Vernichtung der Hamas wird von Analysten weltweit als unrealistisch betrachtet. Vielmehr wird vermutet, dass die niederen Motive für seine gnadenlose Offensive der eigene Machterhalt und die Ablenkung von Korruptionsvorwürfen ist.

Sehen die Israelis all das nicht? Vielleicht doch, aber — so haben wir es aus der Wahrnehmungsforschung gelernt — man kann nur sehen, was man sehen will beziehungsweise worauf die eigene Aufmerksamkeit gelenkt wird. Und diese Lenkung ist eindeutig und gewollt: Israelis haben schwere persönliche Verluste zu betrauern, und nur darauf soll ihr Blick gerichtet sein. Außer den 1.200 Opfern vom 7. Oktober haben mittlerweile auch noch 225 Soldaten ihr Leben verloren, über 1.300 wurden verwundet. Unsere Toten sind ausschließlich Helden; jeder getötete Palästinenser hingegen ist ein eliminierter Terrorist, ganz gleich, ob er 20-jährig mit einer Waffe in der Hand oder als Säugling an der Brust seiner Mutter getötet wurde.  Für Israelis fühlt sich jeder tote Soldat wie der Verlust des eigenen Sohnes an. Besonders, weil wir mit der Mär von der „moralischsten Armee der Welt“ aufgewachsen sind. Dass dem nicht so ist (weil keine Armee der Welt im Krieg „moralisch“ ist), weiß man längst; gerade eben hat sogar die Süddeutsche Zeitung ausführlich dazu berichtet. Sie beschreibt Videos wie dieses oder dieses oder dieses.

Von daher können wir nicht mit Bemühungen von israelischer Seite rechnen, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Umso wichtiger sind all die jüdischen Stimmen und die der Israelis im Ausland. Die allermeisten setzen sich für eine umgehende Waffenruhe, die sofortige Freilassung aller noch lebenden Geiseln und Friedensverhandlungen ein. Denn die Geschichte hat gezeigt: ohne Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit wird es niemals Frieden und Sicherheit geben. Auch nicht für Israelis.

2 Gedanken zu „Israelis verstehen“

  1. Es gibt jetzt auf der Website des ICJ auch eine Erwiderung Israels auf den Eilantrag Südafrikas, die sich in für ein juristisches Schriftstück höchst ungewöhnlichen, wüsten Beschimpfungen ergeht. – Übrigens zudem noch quasi anonym, weil undatiert, ohne Absender, Anrede, Gruß und Unterschrift. Lässt schon sehr tief blicken, dass nicht mal mehr die elementaren Umgangsformen beachtet werden …

  2. Der Eilantrag Südafrikas ist jetzt auf der Website des ICJ verfügbar. (In Abs. 9 ist ein kleiner Tippfehler: 2x „Article II“.)

    Eine schlechte und eine gute Nachricht zum ICJ:
    · Leider wurde die dubiose Richterin Sebutinde, die stur gegen alles gestimmt hatte, letzte Woche zur Vizepräsidentin gewählt.
    · Südafrika stellt jetzt auch einen regulären Richter, der zuvor Berater der südafrikanischen Außenministerin war.

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