Von Generation zu Generation

Die Bombe expolodierte mittags um kurz nach zwölf am 20. Mai 1948 — heute auf den Tag genau vor 75 Jahren. Sie verfehlte ihr Ziel um ein paar Hundert Meter, so vermutete man später, denn warum hätten die Jordanier oder die Syrer (oder wer auch immer im Besitz solcher Waffen war) ein kleines ärmliches dicht besiedeltes jüdisches Viertel zwischen der Jerusalemer Altstadt und dem Machane-Yehuda-Markt treffen wollen? Die Flugbahn des Geschosses war wohl nicht präzise berechnet worden, jedenfalls streifte die Bombe einen Baumwipfel am Ende der Straße und detonierte dort. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, damals neun Jahre alt, erinnert sich genau: Als ich sie gestern in Israel anrufe, schildert sie die Geschehnisse jenes Tages minutiös und in der selben Präzision wie in den Jahren zuvor, wenn ich sie befragte. Ihre Erinnerungen decken sich mit den Erzählungen meiner Mutter, mit der ich oft darüber sprach, als sie noch lebte.

„Deine Mutter und ich“, beginnt meine Tante, „hörten den Wassermann rufen, dass der Pumpenwagen gleich kommen würde. Also holten wir die leeren Wasserkanister und rannten die Straße hoch, wo sich bereits eine lange Schlange gebildet hatte. Manchmal musste man zwei, drei Stunden anstehen, bis das Wasser tatsächlich geliefert wurde und wir endlich dran kamen. Unsere Freundin Sarale kam auch mit einem Kanister angerannt, hatte aber ihre Wassermarken vergessen. Ohne Marken kein Wasser — das wussten wir, also bat sie uns, auf ihren Kanister aufzupassen und ihr den Platz in der Schlange freizuhalten. Sie rannte die Straße hinunter, lief zu sich ins Haus und in den ersten Stock, wo ihre Familie wohnte. Dann hörten wir die Detonation, drehten uns um, sahen, wie Sarale den Kopf weit aus dem Fenster streckte.“
An dieser Stelle wird meine Tante still. Sie hat es schon oft erzählt, aber an dieser Stelle macht sie immer eine Pause, an dieser Stelle sucht sie jedes Mal nach anderen Worten. Als könnten neue Worte die Grauen des Krieges etwas weniger grausam, etwas erträglicher, vielleicht sogar die Geschehnisse nachträglich ungeschehen machen. An dieser Stelle der Geschichte ist die Kindheitsanekdote zuende, ist nur noch das Trauma von Sarales Enthauptung präsent.

Shalomiko, der jüngste Bruder meiner Mutter. Er starb 7-jährig am 20. Mai 1948

In dem folgenden Text habe ich die Erinnerungen meiner Mutter und ihrer Schwester zu einer kleinen Erzählung verarbeitet.

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Wie zu erwarten war, gibt es viel zu sehen und zu lesen zum 75. Jahrestag der Staatsgründung Israels. Erstmals wurde in der UNO feierlich der Nakba, der mannigfachen Katastrophe des palästinensischen Volkes gedacht. Auch in Deutschland wird viel über die Nakba berichtet, die nun einmal die Kehrseite der Erfolgsstory des zionistischen Traums ist. Palästinenser gingen an vielen Orten weltweit auf die Straßen, um der Vertreibung ihrer Vorfahren zu gedenken. In der israelischen Tageszeitung Haaretz erschien dieser Artikel (hier Englisch und mit deutscher Deepl-Übersetzung), der grundlegende Aspekte der Nakba beleuchtet. Wer verstehen will, wie Fakten und Mythen das Narrativ formen, findet hier das Wichtigste verständlich zusammengefasst.
Weitere sehens-, hörens- und lesenswerte Beiträge sind:

Joint Nakba Remembrance Ceremony: Unter dem Motto „Vergangenheit erinnern, um eine bessere Zukunft zu schaffen“ sind beim gemeinsamen Gedenktag Zeitzeugen zu hören. Veranstaltet von ‚Combatants for Peace‘, ehemaligen Kämpfern beider Seiten — eindrucksvoll und bewegend. (52 min)

Amnesty International Video: Wer verstehen will, warum die Nakba kein singuläres Ereignis ist, sondern bis heute andauert, wird hier fündig. So wird Überwachungstechnologie zur Unterdrückung der Palästinenser eingesetzt. (20 min)

Dazu passend: ARD-Hörfunkbeitrag über die High-Tech-Überwachung in Hebron (4 min)

Kein Land ohne Volk von Moshe Zuckermann in der Beilage NAHER OSTEN der junge welt (5 min)

ARD Monitor: Warum starb Shireen Abu Akleh? Ein ausgezeichnet recherchierter Bericht zweier Journalistinnen zum Mord an Shireen Abu Akleh, über die ich vor einem Jahr hier schrieb. Jede Minute sehenswert! (12 min)

Hier liest Colum McCann den Brief von Rami Elhanan an seine Tochter Smadar, die bei einem Selbstmordattentat getötet wurde. Rami gründete zusammen mit anderen israelischen und palästinensischen verwaisten Eltern den Parents Circle.

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Das Wichtigste zum Schluss: Wenn Du erfahren möchtest, wie aus Sicht von Palästinensern und Israelis eine freie, friedliche Zukunft, wie das Ende der andauernden Vertreibung und ein Rückkehrrecht für Palästinenser aussehen könnte, dann registriere Dich für das Webinar von Green Olive Collective und Zochrot, das am Sonntag, den 28. Mai um 19 Uhr stattfindet. Ich arbeite seit Jahren mit beiden Organisationen zusammen, ich kenne die Referenten und verbürge mich für ihre Vertrauenswürdigkeit.

Danke, dass Du bis hierhin gelesen hast!
Herzlichst,

Übrigens wird heute eine angemeldete Demonstration zum Gedenken an die Nakba in Berlin verboten. In München hingegen wurde der Nakba-Gedenkmarsch vergangene Woche von freundlichen Polizisten begleitet.