Verstand. Nicht Verständnis.

Immer wieder werde ich gefragt, ob ich die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober denn nicht deutlicher verdammen könne. Habe ich das tatsächlich nicht absolut klar gemacht? Sollte irgendwer noch den geringsten Zweifel haben: Die Tötungen, die grausamen Morde an unschuldigen Menschen — jung, alt, behindert, mit und ohne Uniform, mit israelischen, thailändischen, deutschen, französischen und sonstigen Pässen — sind verheerend, abstoßend, völkerrechtswidrig, grausam und durch nichts zu rechtfertigen. Punkt.

Das entbindet mich aber nicht von der Verpflichtung als politisch denkender Mensch, als Publizistin, als Humanistin und Denkerin mit Herz und Hirn, über die Ursachen dieser Gewalt, über Kontexte, über Historie, über Lebensrealitäten nachzudenken, und zwar einzig zu dem Zweck, Lösungsansätze zu finden, damit das nie wieder geschehe. Weder das Morden und Töten von Israelis in unbeschreiblicher Zahl, noch das Zerbomben und Zerstören palästinensischen Lebens in mittlerweile fast zehnfacher unbeschreiblicher Zahl. Ich will verstehen. Und verstehen, also den Verstand einsetzen, ist nicht dasselbe wie Verständnis haben. Das muss ich ja wohl niemandem hier erklären.

Ich halte mich an Hannah Arendt, die von sich sagte, sie wolle „einfach nur verstehen“, auch wenn das bedeute, „dahin zu denken, wo es wehtut“. Was ich zu sagen habe, kannst Du in dem Podcast „Schantall und Scharia“ von Fabian Goldmann hören, der meine Tochter Lili und mich zu einem 90-minütigen Gespräch eingeladen hatte.


WESTBANK
Seit dem 7. Oktober ist die Gewalt gegen Palästinenser in der Westbank extrem gestiegen. Die Tagesschau berichtet (immerhin mal 3 Minuten lang) von der Gewalt national-religiöser Siedler, die palästinensische Bauern im besetzten Westjordanland bei der Olivenernte massiv bedohen. Die UN-Organisation OCHA berichtet gestern:
Im Westjordanland töteten israelische Streitkräfte sechs Palästinenser, ein israelischer Siedler tötete einen weiteren Palästinenser. Damit steigt die Zahl der palästinensischen Todesopfer durch israelische Streitkräfte oder Siedler seit dem 7. Oktober auf 121, darunter 33 Kinder, sowie ein von Palästinensern getöteter israelischer Soldat. Seit dem 7. Oktober wurden fast 1.000 Palästinenser im Westjordanland gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben. Darunter befinden sich mindestens 98 palästinensische Haushalte mit über 800 Personen, die aus 15 Hirten-/Beduinen-Gemeinschaften im Gebiet C vertrieben wurden, nachdem die Gewalt der Siedler und die Zugangsbeschränkungen zu ihren Häusern zugenommen hatten. Weitere 121 Palästinenser wurden vertrieben, nachdem ihre Häuser von den israelischen Behörden wegen fehlender israelischer Baugenehmigungen oder als Strafmaßnahme abgerissen worden waren. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem veröffentlicht einen dringenden Aufruf an die internationale Gemeinschaft, die Zwangsumsiedlungen im Westjordanland zu stoppen


ISRAEL
Aus Israel bekomme ich von Freunden und Familie bedrückende Nachrichten. Die Menschen, die bis vor drei Wochen noch auf Tel Avivs Straßen protestierten, sitzen frustriert und verängstigt zu Hause, meist vor dem Fernseher, der rund um die Uhr läuft. Immer wieder Raketenalarm — immerhin haben sie Schutzräume. Selbst die Regierungskritischsten unter ihnen fühlen sich emotional nicht in der Lage, sich zum jetzigen Zeitpunkt den größeren Kontext anzusehen oder gar über Lösungen nach dem Krieg nachzudenken. Zu tief sitzt der Schock des 7. Oktober, das als Verrat empfundene Verhalten (oder besser: Nicht-Verhalten) von Militär, Polizei und Sicherheitsapparat. Die Menschen fühlen sich von ihrer Führung im Stich gelassen wie noch nie, gleichzeitig eint sie der Schmerz über die vielen Toten und Verwundeten und obendrein die größte Sorge — die Frage nach dem Verbleib der Vermissten und der Befreiung der Geiseln. Meine Cousine meinte: „Meine einzige Hoffnung ist, dass nach dieser Finsternis irgendwann wieder ein Licht kommt.“

GAZA
Ein palästinensischer Freund schickt mir täglich Dutzende von Videos aus Gaza. Das Leid der Zivilisten ist unermesslich. Rund 300 Kinder sterben täglich unter dem Bombenhagel; tausende sind teils schwer verletzt, Operationen werden ohne Betäubungsmittel durchgeführt. Auf allen Videos wird geschrien, geweint, gerannt, geblutet, gestorben. Ich kann ihn nicht bitten, mir nichts mehr zu schicken, weil er die Hoffnung hat, dass seine Bilder etwas bewegen in Deutschland. „Show it to Germany, they must help us!“, schreibt er. Darum sage ihm nicht, dass ich nicht mehr alle Videos ansehe, und schäme mich, dass ich es nicht ertrage.


Der evangelische Pastor von Bethlehem, Dr. Mitri Raheb, im SPIEGEL-Interview.

Geschichte der Hamas in der taz mit vielen weiterführenden Links von Joseph Croitoru

Prof. Moshe Zuckermann über den historischen Kontext, den Horror, den die Hamas angestiftet hat und die politischen Hintergründe

Immer noch und immer tiefer erschüttert,

12.000 Tonnen Sprengstoff

Gaza:

– Derzeit wird die Zahl der Todesopfer nur geschätzt, allein in den letzten 24 Stunden wurden 704 Menschen getötet, darunter 305 Kinder.

  • Insgesamt wurden mehr als 6.000 Menschen getötet, davon mindestens 2.300 Kinder, mindestens 32% der Kinder sind Babys unter 2 Jahren.

– Seit dem 7. Oktober wurden 12.000 Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen, was der Sprengkraft der Atombombe entspricht, die 1945 auf Hiroshima in Japan abgeworfen wurde.

– Ärzte berichten über den Einsatz unkonventioneller Waffen bei der Behandlung von Verbrennungen 4. Grades, bei denen das Weichgewebe des Fleisches durchbrennt.

– Aufgrund der Treibstoffknappheit kündigte das Gesundheitsministerium vor einigen Stunden den völligen Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Gaza an.

– Mindestens 18.500 Verletzte.

– Schätzungsweise mehr als 1.500 Tote oder Lebende unter den Trümmern, darunter mindestens 870 Kinder. 

– Aufgrund des Treibstoffmangels ist der letzte verbliebene Bagger im Streifen außer Betrieb, was bedeutet, dass Menschen nur mit der Hand oder mit Schaufeln ausgegraben werden können.

– Mindestens 55 Familien (Mitglieder mehrerer Generationen) ausgerottet.

– Über 1,4 Millionen Vertriebene. 43% aller Häuser in Gaza wurden ganz oder teilweise zerstört.

Westjordanland:

– Mindestens 96 Tote, davon mindestens 27 Kinder.

– 1.500 Verletzte.

– Mindestens 5.000 Menschen wurden seit dem 7. Oktober gefangen (insgesamt über 10.200). In den ersten Tagen wurden weitere 4.000 Arbeiter aus Gaza gefangen.

– 13 Gemeinden wurden vertrieben, darunter 545 Menschen, die Hälfte davon Kinder.

Israel:

1.400 Tote, 5.400 Verletzte, darunter viele Kinder


Ich habe der Münchner Abendzeitung ein Interview gegeben, das am Freitag ganzseitig in der gedruckten Ausgabe erschien. Die Online-Version blieb ungekürzt, wurde aber nachträglich mit einer Notiz „Zur Person“ ergänzt.

Hier eine hervorragende, informative Stunde mit politischer Analyse zur Israel-Palästina-Situation mit Michael Lüders:


Unbedingt lesen, um Israelis zu verstehen: Prof. Jeff Halper in der NRZ

Daniel Bar-Tal, Prof. em. aus Tel Aviv, bittet um Verbreitung dieses Briefes

Amira Hass, einzige israelische Journalistin in Ramallah, spricht in Democracy Now mit Amy Goodman


Mein Gespräch mit Rihm M. Hamdan ist jetzt auf Youtube freigeschaltet.

Unsere Außenministerin meint, wir alle seien jetzt Israel, und Israel fordert heute den Rücktritt von UN-Generalsekretär Guterres.

Echt jetzt?

Wir alle

Liebe Freundis,
heute habe ich beschlossen, vorerst nicht mehr zu gendern. Ab sofort meine ich immer alle mit. Alle. Wirklich ALLE. Alle Menschen, die ich anspreche, und alle, über die ich spreche. Alle Personen aus Fleisch und Blut, alle Menschen mit einem Kopf und einem Herzen, das in jeder Brust rot und regelmäßig oder rauf und runter schlägt. Ich meine Menschen mit Herz und Hirn, mit einem Leib und zwei Beinen und zwei Armen. Und auch solche, deren Arme und Beine oder Knie weggeschossen wurden. Was immer ich schreibe oder sage — Freunde, Gäste, Zuschauer (manchmal erlaube ich mir auch eigene Wortkreationen wie Freundis, Gästs oder Zuschauis) — ich meine immer alle Menschen aller Hautfarben, Religionen, Nationalitäten, Zugehörigkeiten und Geschlechter, die ich anspreche. Wenn ich in Zukunft unterscheide, dann unterscheide ich zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, zwischen Gewalttätigen und Friedliebenden, zwischen freundlich und unfreundlich.

Ich möchte freundlich sein, auch in meiner Sprache, verbindlich und verbindend, nicht trennend. Nicht unterscheiden, sondern zusammenführen, einen. Nicht, dass ich die Notwendigkeit nicht begreifen würde, marginalisierten, unterdrückten, diskriminierten, ausgegrenzten Personen eine Stimme zu geben und deren Identitäten zu stärken, im Gegenteil. Aber mein Fokus liegt jetzt, wie ganz früher auch schon, auf uns allen. Vor allem auf denen, die systembedingt auf der untersten Sprosse der Leiter sind. In Gaza, wo wir gerade Augenzeugen der versuchten Ausrottung eines Volkes werden, trifft es alle, ganz gleich, ob es von Hamas / Männern unterdrückte Frauen sind, von religiösen Fanatikers verfolgte Schwule oder Lesben, von Rassisten gehasste Andersfarbige. Ich spreche Dich, Dich und Dich an: meinen schwulen Freund, meine lesbisch-bisexuelle Freundin, den muslimischen Nachbarn, die schwarze Trans-Frau und auch den alten weißen Mann.


EINLADUNG

Wir vom Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ planten für den 4. November ein Jubiläumsfest zu unserem 20-jährigen Bestehen. Wie Du Dir denken kannst, ist uns jetzt nicht nach feiern zumute. Aber wir wollen zusammenkommen, der Opfer dieses sinnlosen Krieges gedenken und uns gegenseitig stärken, um wirklich etwas für Gerechtigkeit und Frieden zu tun. Sei dabei! Hier unsere aktualisierte Einladung. Bitte komm nach Berlin und melde Dich an!

Das OYOUN, unser Veranstaltungsort in Berlin, hat massiven Druck seitens der Senatsverwaltung bekommen, weil wir Bilder eines Gazaner Künstlers zeigen, die Veranstaltung nicht absagen und das OYOUN nicht bereit war, den Vertrag mit uns zu kündigen. Hier ist das Statement des OYOUN dazu und die erste Reaktion der Berliner Zeitung.

Amira Hass, einzige in Ramallah lebende israelische Journalistin, in Ha’aretz: Deutschland, Du hast in Deiner Verantwortung seit langem versagt!

Michael Sfard, israelischer Menschenrechtsanwalt, in der Süddeutschen Zeitung: Ich bin völlig niedergeschlagen

Die höchst aufgeregte Rede des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, unbedingt sehenswert:

Wer den sanften Worten des ungarisch-kanadisch-jüdischen Traumatherapeuten Gabor Maté lauschen möchte, kann HIER ganz viel Kontext verstehen.

Der Südafrika-Korrespondent der Frankfurter Rundschau:
Schweigen ist nicht mehr okay

Diesen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Geiseln freizubekommen, habe ich mit vielen anderen israelischen und jüdischen Künstlers und Akademics unterschrieben: Elephant in the Room

Ein wesentlich breiter gefächertes Bild zur Situation in Israel/Gaza/Nahost findest Du auf BBC, Aljazeera, Democracy Now (besonders eindrucksvoll dieser Beitrag) und CNN. Außerdem auf den Websites von +972, B’tselem, OCHA OPT und auf dem Aljazeera Podcast.


Mehr, liebe Brief-Freundis, habe ich heute nicht zu sagen. Mit Rihm, einer jungen Frau mit palästinensischen Wurzeln, habe ich vor ein paar Tagen ein Gespräch geführt, das wir aufgezeichnet haben und das vorab all meinen STEADY-Unterstützern zur Verfügung steht. Nächste Woche wird es auf meinem Youtube-Kanal veröffentlicht. Oder Du kannst darauf sofort Zugriff haben, wenn auch Du meine Arbeit über STEADY unterstützt — ein echter Liebesdienst.

Danke dafür und auch fürs Lesen und Weiterverbreiten!
In Liebe, herzlich, wütend, traurig…

Blut und Tränen

jedes Wort zuviel
jeder Aufruf zu Vernunft sinnlos
alles vernichtet
alles
Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz unser Schmerz deren Schmerz jeder Schmerz der Schmerz der anderen alles schmerzt Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz Schmerz
sinnloses Leid
alles sinnlos
alle Hoffnung geschwunden

außer die eine, die kleine
die Hoffnung, die dann erwacht, wenn mit der Hoffnung
auch die Hoffnungslosigkeit stirbt

wir werden auf sie zugreifen
wenn noch viel mehr Blut und Tränen
geflossen sein werden

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Was soll ich Dir schreiben, lieber Freund? Die richtigen Worte wollen sich nicht formen, darum verlinke ich einige Beiträge von Menschen und Organisationen, die ich kenne. Sie alle drücken ihre Bestürzung und ihre Trauer über die Opfer auf israelischer und auf palästinenischer Seite aus und ordnen Ursachen und Kontexte ein. Die meisten der folgenden Statements sind auf Englisch verfasst; nicht alle geben meine Sichtweise vollständig wieder, aber ich stehe ihnen inhaltlich nahe. Der gemeinsame Tenor ist: Zwischen Mittelmeer und Jordan spielt sich eine Tragödie ab, deren Gewalt wir verurteilen und die ungeahnte Ausmaße annehmen wird. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, um Sicherheit und Frieden für alle Menschen dort herzustellen.

Breaking the Silence, israelische Organisation von Soldaten, die ihr Schweigen brechen

Haggai Mattar, executive director des israelischen Online-Magazins +972, beschreibt seine erste Reaktion am Samstag

Mohammed R. Mhawish, palästinensischer Journalist, der aus Gaza für +972 schreibt

ICAHD, Israeli Committee Against House Demolitions

Green Olive Tours, israelischer Reiseveranstalter mit palästinensischen Partnern

Refuser Solidarity Network: „There is no military solution to the Palestinian-Israeli conflict.“

,Bundesarbeitskreis Gerechter Frieden in Nahost‘ der Partei Die Linke

Peter Beinart, jüdisch-amerikanischer Journalist mit einem sehr persönlichen Videostatement, das mit einem Gebet für alle Gefangenen Israelis und Palästinenser schließt

Krieg.

Krieg

Seit ich mich heute Morgen hingesetzt habe, um Dir von all den schönen Ereignissen zu berichten, die derzeit um mich herum geschehen,

liebe Brieffreundin, lieber Brieffreund,

ist die Zahl der Toten in Israel von eins (7 Uhr) auf zweiundzwanzig gestiegen, Stand 12.20 Uhr. Dazu über 500 Verletzte. Meine Cousinen schreiben mir, dass viele Zivilisten im Süden Israels eingesperrt und als Geiseln gefangen gehalten werden, manche Geiseln sind angeblich nach Gaza verschleppt worden. Eine Gewalteskalation, wie Israel sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Die Leidtragenden sind wieder Zivilisten, so wie es in der Mehrzahl wieder Zivilisten in Gaza und wahrscheinlich auch im Westjordanland sein werden, die vermutlich den morgigen Tag nicht mehr erleben. Und wie viele werden in Israel heute noch sterben? Und morgen, übermorgen, nächste Woche, bis zum Jahresende? Wie viele tote Menschenkinder auf allen Seiten?

Heut morgen um sieben war mir klar: Das wird schlimmer als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten zwischen Mittelmeer und Jordan gesehen haben. Und das zeigt sich jetzt schon, von Minute zu Minute. Die Hamas, die die belagerte Enklave verwaltet, erklärte, ihre überraschende Operation sei eine Reaktion auf die Entweihung der Al-Aqsa-Moschee und die zunehmende Gewalt der Siedler. Sie werde Israel mit Feuer und Rache übersäen. Netanyahu hat Hamas den Krieg erklärt, „sie werden eine Antwort bekommen, wie sie sie noch nie erlebt haben“, sagte er gerade im israelischen Fernsehen. Schon sind Bomben in Gaza gefallen, Krankenhäuser melden von dort die ersten Toten und Verletzten.

Mich schmerzt jede und jeder Tote; der Schmerz der Verletzten durchschaudert mich, die Trauer um jeden Menschen und um alle zerschossenen Gliedmaßen und um jedes verwaiste Kind und um alle Hinterbliebenen und Verlassenen und Traumatisierten lässt mich innerlich zusammenbrechen, ein ums andere Mal. Oft spreche ich von der „Menschheitsfamilie“ , der wir doch alle angehören. Ich fasse es nicht: ein paar Milliarden, so unterschiedlich wir sind, und doch alle aus Fleisch und Blut, mit Herzen und Seelen und Geschichten und Schicksalen ausgestattet — wir alle rasen auf diesem schönen blauen Planeten im All herum und hätten eigentlich Besseres zu tun als unsere Unterschiedlichkeiten mit dem Schwert ausmerzen zu wollen. Vom Mond aus betrachtet ist das alles so absurd. Und doch stehen wir da als Individuen, bekämpfen und quälen uns, schlagen uns tot: In Israel und Palästina, in Bergkarabach, im Sudan, in der Ukraine… die Liste ließe sich fortsetzen.

Wird das je ein Ende haben?

Was seit heute Morgen in Israel/Palästina geschieht, ist nicht nur eine weitere Eskalation der Gewalt. Es ist der Beginn von sinnlosem, massenhaften Blutvergießen, das nicht so schnell enden wird und das sich möglicherweise in einen Flächenbrand ausbreitet (und ich bete darum, dass ich falsch liege!). Die Reservisten, die eben noch auf den wöchentlichen Kundgebungen ihren Dienst verweigert haben, eilen an die Waffen, um ihr Land zu verteidigen; unter solch einem Beschuss ist die Spaltung im Lande schnell überwunden. Die Interessen der rechtsradikalen israelischen Regierung werden leichter durchzusetzen sein und die Mobilisierung und Radikalisierung auf palästinensischer Seite wird voranschreiten.

Ich bin traurig, fassungslos, verzweifelt. Haben meine künstlerischen Friedensbemühungen irgend einen Sinn gehabt? Mir scheint, sie haben ebenso wenig zur Sicherheit und Befriedung beigetragen wie die militärischen Zäune, Überwachungskameras, Drohnen und Blockaden, die Israel zur Sicherung seiner Bevölkerung und Demokratie installiert hat. Wie konnte es sein, dass Dutzende Hamas-Kämpfer auf einmal, nach über 16 Jahren, die israelische Blockade von Gaza erfolgreich stürmen und israelische Städte „infiltrieren“, wie es heißt? Hat der israelische Geheimdienst, angeblich einer der besten der Welt, geschlafen?

Eigentlich wollte ich Dir erzählen, wie sehr ich mich über ein Konzert freue, das am 28. November in München mit Unterstützung des Kulturreferats der Stadt stattfindet. Ein ganz besonderes Konzert soll es werden, zusammen mit der syrischen Tänzerin Mouna Sabbagh, mit der ich vor 20 Jahren „SALAM SHALOM — Kennst Du den Weg ins Paradies?“ auf die Bühne gebracht habe. Wie weit sind wir heute, am 7. Oktober 2023, von Salam und Shalom entfernt, und um wie viel weiter noch unsere Schwestern und Brüder im Nahen Osten?

Mehr zum Konzert und allem anderen erzähle ich Dir im nächsten Brief.

Herzlichst,