In Tel Aviv hängen seit einigen Tagen zwei Riesenplakate an großen Ausfallstraßen:
Screenshots aus i24news.tv; noch ein Plakat hier auf Haaretz
Darauf zu sehen: Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas und Hamas-Führer Ismail Haniyeh, beide kniend auf kriegszerstörtem Schutt, die Augen verbunden, die Körperhaltungen zeugen von Aufgabe; über ihnen israelische Kampfhubschrauber. In großen Lettern steht darüber geschrieben:
FRIEDEN MACHT MAN AUSSCHLIESSLICH
MIT BESIEGTEN FEINDEN
Als Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai vergangenen Freitag anordnete, die Plakate zu entfernen, drohte die Organisation Israel Victory Project, die zwar nicht auf den Plakaten firmiert, sich aber für deren Existenz verantwortlich zeigt, sie würde vor Gericht ziehen, wenn dies geschehe.
In Tel Aviv gab es keinen Aufschrei in der Bevölkerung. Im israelischen englischsprachigen Online-Magazin i24news.tv, in dem die Meldung zuerst erschien, gab es lediglich zwei Kommentare, beide mit demselben Tenor:
„(…) Ich mag den Satz: „Frieden kommt mit der Niederlage des Feindes“. Warum gehen wir also nicht einfach hinaus und besiegen ihn?“ und
„Anstatt weitere Werbetafeln zu entfernen, hört auf, den Feind durchzufüttern„.
Gestern, am 19. Februar 2020, erschien in Haaretz der Kommentar von Neve Dromi, einer jungen Israelin, die das Israel Victory Project leitet, den israelischen Ableger des Middle East Forums, eines US-amerikanischen Think-Tanks, das US-Interessen im Nahen Osten vertritt. Dieser Kommentar ist mehr als lesenswert (alle Links am Ende). Zum einen zeigt er, wie liberal die Tageszeitung Haaretz ist, indem sie so einer militanten rechtsradikalen Denkerin ein Forum bietet, einer Frau, die keinen Hehl aus ihrer faschistoiden Haltung macht, die ihre Überzeugung nicht durch heuchlerisches Wir-wollen-doch-alle-Frieden-Geheule zu vertuschen sucht . Zum anderen zeigt der Artikel, dass dieser Orwell-Sprech längst im israelischen Mainstream angekommen ist; man kann sorglos vom „Besiegen“ der Palästinenser sprechen, zuweilen auch von „Vertreiben“ oder „Vernichten“, oder, wie im Kommentar Nr. 6 eine Meinung lesen, die in Israel weit verbreitet ist und die ganz sachlich, fast wissenschaftlich formuliert ist:
„Tatsächlich gibt es fast keine Beispiele aus der Geschichte, in denen der Frieden zwischen zwei gleichberechtigten Seiten durch Verhandlungen erreicht wurde. Frieden wurde fast immer erreicht, nachdem die eine Seite die andere besiegt hatte, oder wenn beide Seiten zu erschöpft waren, um den Kampf fortzusetzen, und dann bereit waren für einen Fortschritt . Leider haben die Araber nicht die Absicht, aufzugeben und sich zu weiterzubewegen — ihre rückständige, primitive Kultur konzentriert sich auf Rache und Ehre, und deshalb sind sie in ihrem Hass gefangen. Die Schlussfolgerung ist, dass sie besiegt werden müssen.“
Oft werde ich in Deutschland gefragt, wie es um die israelische Friedensbewegung bestellt ist, und in guter jüdischer Manier antworte ich mit einer Gegenfrage: Welche Friedensbewegung?! Weder ist Frieden in Sicht, noch bewegt sich irgendwer in irgend einer Weise in diese Richtung. Mag sein, dass Leute wie Neve Dromi — und sie ist keine Ausnahme, die Mehrheit der Israelis denken so oder ähnlich, meist noch mit einem Schulterzucken und der Entschuldigung „Uns gefällt das auch nicht, aber die Palästinenser kennen leider keine andere Sprache, also haben wir keine Wahl“ — mag sein, dass diese Leute noch eine Weile das Sagen haben in Israel; mag sogar sein, dass sie noch weiter kommen mit der grandiosen Unterstützung des blondbemützten Großmauls aus Washington. Einen Frieden im wahrsten Wortsinn werden sie nicht erzielen. Und bestimmt nicht, weil die Palästinenser angeblich eine „rückständige, primitive Kultur“ hätten, sondern weil kein Volk es sich gefallen lässt, jahrzehntelang vertrieben, gedemütigt und seiner Rechte beraubt zu werden. Es sei denn…
Tja, es sei denn, dieses Volk findet nirgendwo Verbündete, Unterstützer. Es sei denn, die Entrechtung wird von vielen Staaten nicht nur hingenommen, sondern unterstützt. Und genau das tun die allermeisten Staaten der sogenannten „Westlichen Wertegemeinschaft“, allen voran die USA, dicht gefolgt von der EU, vor allem aber von Deutschland. Wissen die Deutschen, was genau sie da unterstützen? Ist es dieses Israel, an dessen Seite Deutschland mit seiner unverbrüchlichen Freundschaft stehen, mit seiner vermaledeiten Staatsräson verteidigen will? Die deutsch-israelische Freundschaft ist wichtig, bemerkenswert und geboten nach der deutsch-jüdischen Geschichte, die noch so jung ist, dass sie die wenigen Überlebenden und selbst ihre Nachfahren immer noch in schlaflosen Albtraumnächten wach hält. Aber muss Freundschaft so unverbrüchlich sein, dass selbst der Bruch von Völkerrecht, Verletzung von Menschenrecht, dauerhafte Zuwiderhandlung gegen internationale Vereinbarungen noch nicht einmal zu einem Streit führen darf? Dass noch nicht einmal Bedingungen gestellt werden dürfen? Ihr Deutschen wollt Israel Waffen oder U-Boote verkaufen oder sogar schenken? Na gut, allein dagegen könnte man Bedenken äußern, aber gesetzt den Fall, Israel braucht das Zeug ganz ganz dringend, um sich zu verteidigen: Kann Deutschland da nicht sagen: Bitte sehr, hier bekommt Ihr Militärgut in Milliardenhöhe, wärt Ihr aber bitte so nett und würdet im Gegenzug die völkerrechtswidrige Besatzung beenden?! Zumindest mal keine weiteren Siedlungen bauen? Das Jordantal nicht annektieren? Palästinensische Kinder aus den Gefängnissen entlassen, zumindest keine mehr verhaften? Den Mauerbau stoppen? Checkpoints reduzieren? Gestohlenes Land zurückgeben? Die Liste wäre noch lang.
Ich höre schon das empörte Schnaufen der vermeintlichen ‚Israel-Freunde‘, die die historische Verantwortung bemühen und sich schon überlegen, wie solche Sätze wie die obigen in die Schablone des „sekundären Antisemitismus“, des „als Israel-Kritik verschleierten Judenhasses“ zu stopfen ist. Sorry, Freunde, weder hasse ich Juden noch Israel, im Gegenteil: Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein friedliches Israel, das in Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit mit all seinen Nachbarn lebt. Meine Vorstellung davon weicht aber von der der anderen ab, die in Israel das Sagen haben. Ich träume, nein: ich wünsche mir und kämpfe für ein Israel UND Palästina, das in welcher Form auch immer so zusammen lebt, dass alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan in Frieden und gleichberechtigt neben- und miteinander existieren können. Eine Utopie? Vielleicht, ja. Aber auch eine Notwendigkeit. Alles andere lässt mich erschaudern.
Immerhin, Tel Avivs mutiger Bürgermeister Ron Huldai hat sich durchgesetzt: die Faschisten-Plakate wurden abgehängt.
Lesematerial:
Die Meldung über die Plakate in i24news.tv (Englisch)
Kommentar von Nave Dromi in Haaretz (Deutsche Übersetzung)
Website des Israel Victory Project
Website des Middle East Forum
PS: Soeben erschien ein Kommentar von Gideon Levy (hier auf Deutsch) zu der Plakat-Affäre, er sieht das ähnlich wie ich. Er endet mit dem Satz, frei übersetzt:
„Lesen Sie Dromi und sehen Sie Israel — ohne die Filter der ‚political correctness‘, ohne die Liberalen mit ihren blutenden Herzen.“
PPS: Mit deepl.com lassen sich englische Texte leicht, schnell, kostenlos und relativ gut verständlich übersetzen.
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TERMINE:
Am Sonntag, den 23. Februar 2020 nachmittags spiele ich mit meiner Tochter Lili (Klavier, Gesang) und Andi Arnold (Klarinette) beim Jahresfest des Jerusalemsvereins in Berlin. Im Zuge dessen habe ich den Veranstaltern dieses Interview gegeben.
Am Samstag, den 28. März 2020, 10-17 Uhr, findet wieder mein Präsenz-Workshop im Freien MusikZentrum München FMZ statt. Infos hier; Anmeldungen bitte ausschließlich übers FMZ.
Am Mittwoch, den 1. April 2020, 20 Uhr, zeigt das alte kino Ebersberg noch einmal den Film FRAU STERN mit meiner Mutter in der Hauptrolle. Hinterher stehe ich wieder zum Filmgespräch zur Verfügung. Wegen der großen Nachfrage empfiehlt sich eine rechtzeitige Reservierung.