Laut UNICEF sterben bereits jetzt die ersten Kinder an Unterernährung. Einem kürzlich erschienenen Bericht der London School of Hygiene and Tropical Medicine, Health in Humanitarian Crises Center und des Johns Hopkins Center for Humanitarian Health zufolge werden selbst im günstigsten Fall eines sofortigen dauerhaften Waffenstillstands in den nächsten sechs Monaten mehr als 6.500 Menschen im Gazastreifen sterben, weil die Ernährungslage, die Unterkünfte, die sanitären Einrichtungen und die Gesundheitsversorgung in der Enklave derartig desolat sind. Hält der Krieg jedoch an, steigen ihre Prognosen für denselben Zeitraum auf 58.200 bis über 74.000 Tote. (aus dem aktuellen Newsletter von medico international)
Prof. Devi Sridhar, Inhaberin des Lehrstuhls für globale öffentliche Gesundheit an der Universität von Edinburgh, schreibt im Guardian:
Es mag Ihnen schwer fallen, die Nachrichten weiter zu lesen, aber denken Sie an die Menschen in Gaza, vor allem an die Kinder, die absichtlich ausgehungert werden. Die ständigen Schmerzen im Bauch, die Lethargie, der langsame Abbau aller Fettspeicher, dann der Muskeln, dann des Körpergewebes. Das kommt vielleicht nicht in die Abendnachrichten oder auf TikTok, weil es weniger sichtbar ist als Bomben und nicht in kurze Clips passt. Aber für die meisten ist es die Realität des Lebens in Gaza und tragischerweise die größte Bedrohung, der sie in den kommenden Tagen ausgesetzt sind.
(aus: I asked public health colleagues about starvation in Gaza. They say there is no precedent for what is happening; The Guardian vom 6. März 2024)
Unterdessen gibt es in Deutschland Banken, die Spenden nicht annehmen, wenn im Betreff „Hilfe für Gaza“ angegeben ist. Wie ist das zu begreifen? Steht „Gaza“ seit dem 7. Oktober kollektiv für das ultimativ Böse? Nimmt man in Deutschland an, dass Mitleid mit hungerleidenden Kindern, mit Vertriebenen und Verwundeten ein Ausdruck von Antisemitismus ist? Dass Hilfsbereitschaft für obdachlose Kriegsflüchtlinge den Menschen in Israel das Recht auf ihre Existenz abspricht? Stehen Empathie und Solidarität mit einer geschundenen palästinensischen Bevölkerung als Synonyme für Israel- oder gar Judenhass? Geht die vielzitierte „uneingeschränkte Solidarität mit Israel“ zwingend Hand in Hand mit dem konsequenten Wegschauen von einer der größten humanitären Kriegs- und Hungerkatastrophen der Neuzeit?
Was in Gaza geschieht, während Du diese Zeilen liest, muss ein Ende finden, und zwar sofort. Das wird nur geschehen, wenn Israel seine Kampfhandlungen einstellt und beide Seiten nicht permanent die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln und einen sofortigen Waffenstillstand torpedieren. Denn eines ist klar: Am Ende des Tages werden es Verhandlungen sein, die den Krieg beenden, nicht ein militärischer Sieg, Doch das offizielle Israel scheint daran kein Interesse zu haben. Daher müssen die USA, muss die EU und Deutschland zumindest ihre Waffenlieferungen an Bedingungen knüpfen (sagt die Realpolitikerin in mir; mein wahres Ich sagt: Gar keine Waffen mehr! Schluss mit allen Kriegen! Schwerter zu Pflugscharen!).
Wer es wagt, sich vor Ort einen eigenen Eindruck von der Situation zu veschaffen wie der SPD-EU-Abgeordnete Udo Bullmann, kann nicht mehr mit der offiziellen deutschen Regierungshaltung mitgehen. Im DLF-Interview berichtet er von seinen Eindrücken und kritisiert Israels Vorgehen scharf. Er fordert auch eine Überprüfung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel, sprich: Sonder(Handles-)konditionen zwischen der EU und Israel müssen endlich an Bedingungen geknüpft werden, die zu einem Ende des Krieges führen.
Ich weiß, wir können nicht alle vor Ort selbst Augenzeugen werden. Aber wir können uns auch nicht erlauben, die Augen zu verschließen, während uns der Horror in Echtzeit ins Haus gestreamt wird. Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche, auf unsere Menschlickeit besinnen in unseren Diskussionen und unseren Forderungen. Es ist bereits so viel zerbrochen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft; so viel Spaltung, so viel Ausgrenzung, Misstrauen und Empathielosigkeit in Diskursen, die man gar nicht mehr so nennen kann. Ich appeliere an uns alle: Lasst uns wieder in Berührung kommen mit unserem eigenen Menschsein. Lasst uns im eigenen Kreis, in unseren persönlichen Begegnungen freundlich miteinander sein, einander zuzuhören, bevor wir mit unserer eigenen Meinung vorpreschen. Lasst uns den Mut haben, uns immer wieder in die Schuhe der anderen zu stellen — gerade wenn sie ganz andere Meinungen vertreten als wir. Wenn wir es ernst meinen mit Demokratie, Pluralismus, Meinungsfreiheit und Menschenrechten, dann müssen wir einiges aushalten, vor allem unsere Mitmenschen und die Vielfalt ihrer Meinungen und Ansichten.
Hier noch ein paar Bilder und Videos aus Gaza. Und der Versuch einer Erklärung in diesem SRF-Beitrag mit Gideon Levy, warum die Wahrheit über die Geschehnisse uns selten erreicht. Sehr gut zu diesem Thema auch diese Analyse von Sana Saeed.
Herzlichst,
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